Abbau Ost
Sozialforschungsinstitut. Thomas Gensicke ist
im wiedervereinigten Deutschland nicht nur die berufliche Transformation gelungen, er hat sich nach eigenen Worten auch problemlos
in die Familie seiner Frau integriert. Und trotzdem steht er zu seiner Herkunft. Wie passt das zusammen?
Ost- und Westdeutsche halten sich, das zeigen alle wissenschaftlichen Befragungen, für sehr verschieden. Jede Seite hat ihre
ganz eigenen Gründe, aus denen sie der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe Eigenschaften abspricht, durch die sie sich selbst
auszuzeichnen meint. Solche Betrachtungen, wie im Übrigen die meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, gründen sich
auf möglichst repräsentative Befragungen und daraus gewonnene Verallgemeinerungen. Solche Analysen werden der Sichtweise des
Einzelnen nicht immer gerecht, aber es werden gesellschaftliche Trends aufgezeigt. So wird das westdeutsche Massenbewusstsein
von der Überzeugung getragen, das leistungsfeindliche, auf kollektivistische |205| Zwänge angelegte DDR-Regime habe seine Bürger derart geschädigt, dass sie den aufrechten Gang kaum noch erlernen, die Verwandlung
vom willfährigen Untertanen zum freien, selbstbestimmten Bürger nur noch schwerlich vollziehen könnten. Diese These von den
mental geschädigten Ostdeutschen als Systembremser wird aus Gründen der politischen Korrektheit selten offen angesprochen,
dennoch dringt diese Sichtweise in die westdeutsch dominierten Medien und in Forschungsberichten immer wieder durch. Das typisch
Ostdeutsche, wenn es das denn tatsächlich geben sollte, hat im wiedervereinigten Deutschland keine Stimme. Kämen die Ostdeutschen
allerdings zu Wort, so würde sich zeigen, dass sie den Westdeutschen noch weit unversöhnlicher gegenüberstehen und die Altbundesbürger
in ihrer Abneigung sogar noch übertreffen. Zumindest gründet sich die Meinung ehemaliger DDR-Bürger von den arroganten und
geldgierigen, bürokratischen und oberflächlichen Altbundesbürgern auf sehr gegenständliche, besonders in den ersten Nachwendejahren
gewonnene Erfahrungen.
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat 1992 und noch einmal 2004 Ost- und Westdeutsche zu ihrer Meinung über die jeweils
andere Bevölkerungsgruppe befragt und wollte wissen, ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede überwiegen. Bei der ersten Befragung
zwei Jahre nach der Wende meinte gut die Hälfte der Westdeutschen, die Unterschiede würden überwiegen, 30 Prozent mochten
sich da nicht festlegen und nur 18 Prozent meinten, es gäbe mehr Gemeinsamkeiten. In derselben Befragung äußerten 70 Prozent
der Ostdeutschen, im Vergleich mit den Westdeutschen würden die Unterschiede überwiegen. Nur jeder Zehnte sah mehr Gemeinsamkeiten.
Zwölf Jahre später meinte immer noch knapp die Hälfte der Ostdeutschen, die Unterschiede überwiegen, was zu diesem Zeitpunkt
nur noch 24 Prozent der Westdeutschen bejahte. Dagegen sahen 2004 bereits 38 Prozent der Westdeutschen mehr Gemeinsamkeiten,
bei den Ostdeutschen waren es lediglich 17 Prozent. Offenbar gibt es im Osten eine tiefsitzende Verbitterung. Es steht außer
Frage, dass eine Nation, in der sich Landsleute so etwas angetan haben, wie das, was in der ehemaligen |206| DDR in den ersten Nachwendejahren geschehen war, vorerst keinen Frieden finden kann.
Doch unabhängig von der ökonomisch gescheiterten Einigung und dem daraus erwachsenden Groll der auf östlicher Seite geborenen
Leidtragenden zeigen alle ernst zu nehmenden empirischen Untersuchungen, dass Ost- und Westdeutsche auch nach vier Jahrzehnten
Trennung Menschen des gleichen Schlages geblieben sind. Eine Face-to-Face-Befragung, die TNS Infratest im November 2003 bei
rund 2600 Ost- und Westdeutschen durchgeführt hatte, kam zu dem Ergebnis, dass Erfolgs- und Leistungsorientierung im Leben
der Ost- und Westdeutschen den gleichen Stellenwert besitzen. Beurteilt wurden bei dem sogenannten McKinsey-Test grundlegende
Einstellungen wie Erfolgsorientierung, Zielstrebigkeit und Problemlösungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Flexibilität.
Die Beurteilung bewegte sich zwischen eins und sechs, eins für »stimmt gar nicht«, sechs stand für »stimmt voll und ganz«.
Die Befragungsergebnisse wurden in einem Index zusammengefasst, der Ost- und Westdeutsche mit 4,7 für ihre Auffassungen zur
Erfolgs- und Leistungsorientierung sozusagen gleich benotet. Interessant ist dabei der Vergleich mit anderen Ländern, in denen
der
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