Abbau Ost
Wenn
es aber, warum auch immer, nicht mehr funktioniert, darf eine Frau (jung, weiblich, allein erziehend) nicht dem Armutsrisiko
anheimfallen und vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden.
Wirtschaftlich unabhängige Frauen verändern den Mann weit stärker als die gesamte Emanzipationsbewegung. Junge ostdeutsche
Frauen, das ist dem Einfluss ihrer Mütter geschuldet, wollen auf jeden Fall wirtschaftlich unabhängig sein und stellen dafür
notfalls ihren Kinderwunsch zurück. Dennoch sind sie eher bereit, Kinder und Beruf miteinander zu verbinden, wenn es sein
muss auch ohne Mann. Ein im Netz des Ernährers verfangener Mann kann die Vorzüge einer beruflich arrivierten Frau nicht wirklich
genießen. Aber er jammert lautstark über den im Falle der Scheidung fällig werdenden Versorgungsausgleich. Auch in Ostdeutschland
wünscht sich mittlerweile eine schnell wachsende Zahl junger Männer sehr wohl eine Familie, aber eine, in der die Frau zu
Hause bleibt und sich um Kinder und Haushalt kümmert. Viele Männer scheitern an diesem Anspruch. Sie können |203| keine Familie ernähren, und einige können nicht einmal für sich selbst sorgen. Heute bietet allenfalls noch der Staatsdienst
ein Maß an Sicherheit, dass die Familie ihre Zukunftsplanungen allein auf die Karriere und das Einkommen eines Ehegatten gründen
kann. Die immer aufregender verlaufenden Erwerbsbiografien in der gewerblichen Wirtschaft und den sogenannten freien Berufen
erfordern Vater und Mutter gleichermaßen und ein gesellschaftliches Umfeld, das Müttern ein berufliches Fortkommen ermöglicht
und sie nicht an den Herd fesselt. Was die Gleichstellung der Frau betrifft, ist das wiedervereinigte Deutschland weit hinter
die Verhältnisse in der DDR zurückgefallen. Westdeutschland hat dieser uneingeschränkt positiven, in den 50er Jahren in Ostdeutschland
begonnenen und bis 1989 fortgeführten Entwicklung mit dem Zeitpunkt der Vereinigung ein Ende gesetzt. Frauen, die sich in
der DDR als »berufstätige Mütter« erleben durften, empfinden den Rückfall in die altdeutschen Zustände besonders schmerzlich.
Ihre Töchter sind heute einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, dem sie sich selbst nie stellen mussten.
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Anspruch und Wirklichkeit
»Erst einmal«, sagt Thomas Gensicke, »wollte ich die üblichen Angriffe auf die angebliche Ossi-Mentalität zurückweisen. Dieses
Bild von den jammernden, durch die DDR-Gesellschaft deformierten Ossis hält keiner wissenschaftlichen Betrachtung stand.«
Für seine selbst unter Berufskollegen immer noch sehr ungewöhnlichen Thesen hatte sich der Philosoph und Sozialwissenschaftler
ein denkbar schwieriges Publikum ausgesucht, jenes konservative, bürgerliche Milieu, wie es auf den Diskussionsforen der Akademie
für politische Bildung Tutzing anzutreffen ist. »Mindestens zwei Drittel des Publikums«, erinnert sich Thomas Gensicke an
seinen Vortrag am 18. Februar 2005, »stammte aus dem konservativ geprägten Bildungsbürgertum. Nur ein kleiner Teil zeigte
sich überhaupt aufgeschlossen.« Zu seinen Vorrednern gehörte Joachim Gauck, der frühere Rostocker Pastor und langjährige Bundesbeauftragte |204| für die Unterlagen der Staatssicherheit, der für seine Lehrsätze von den unterdrückten, durch den Überwachungsstaat geprägten
ostdeutschen Untertanen viel Beifall erhielt. Und so stellte Thomas Gensicke an den Anfang seines Vortrages den eigenen Lebenslauf:
Geboren 1962 in Magdeburg, 1978 Abschluss der zehnjährigen, Polytechnischen Oberschule, im Anschluss Berufsausbildung mit
Abitur, Facharbeiter für Maschinenbau, Unteroffizier bei der Nationalen Volksarmee, dann Studium der marxistisch-leninistischen
Philosophie in Leipzig und nach dem Abschluss, ab September 1989, die Anstellung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften
des ZK der SED.
Thomas Gensicke hatte zu DDR-Zeiten eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Nach der Wende und der Auflösung der Akademie wechselte
er von 1990 bis 1991 an das Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien und ging von dort für zehn Jahre an die
Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Dort schrieb er seine Promotion zum Thema ›Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation
ohne Integration‹, begann 2001 als Projektmanager bei TNS Infratest in München, heiratete zwei Jahre später eine Münchener
Kollegin und ist seit 2004 Bereichsleiter »Staat und Bürger« beim Münchener
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