Abbau Ost
McKinsey-Test ebenfalls durchgeführt wurde: Großbritannien (4,4), Frankreich (4,3), Polen und Italien (4,2). Im Hinblick
auf die Erfolgs- und Leistungsorientierung gibt es folglich kaum Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, wohl aber im
Vergleich mit anderen Nationen.
Auch bei der Bewertung sozialer Standards wie beispielsweise Pflichtbewusstsein, Prinzipientreue, Teamfähigkeit und Kontaktfreudigkeit
liegen Ost- und Westdeutsche nah beieinander. Zur Beurteilung, in welchem Maße Menschen solche Standards erfüllen, hat sich
der so genannte Big-Five-Persönlichkeitstest herauskristallisiert. Dieser Test basiert auf der Erfahrung, dass sich jede Persönlichkeit
durch fünf Dimensionen (Big Five) beschreiben lässt. Das sind Kontaktfreudigkeit (Aufgeschlossenheit für äußere Eindrücke),
Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität und Offenheit (im Sinne von Veränderungsbereitschaft). Die fünf
Dimensionen werden anhand bestimmter Fragestellungen |207| abgeprüft und zwischen eins (stimmt gar nicht) und fünf (stimmt voll und ganz) eingeordnet. Danach charakterisierten sich
Ost- und Westdeutsche ähnlich gewissenhaft, ordentlich, rücksichtsvoll und kooperativ. Allerdings zeigte der Persönlichkeitstest
auch Differenzen. Im Hinblick auf Kontaktfreudigkeit, Teamfähigkeit, Verlässlichkeit, systematische Arbeitsweise und Hartnäckigkeit
beim Erreichen von Zielen schnitten die Ostdeutschen durchweg etwas besser ab. Sozialstudien billigen ehemaligen DDR-Bürgern
beim Lösen von Problemen ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und systematischer Denkweise zu, während Altbundesbürger eher zu
einer zufallsorientiert-spielerischen Denkweise neigen. Die Ursachen sehen Sozialwissenschaftler in der systematisch aufgebauten
Wissensvermittlung im Bildungssystem der DDR und der eher unsystematisch-zusammenhanglosen an westdeutschen Bildungseinrichtungen.
Allerdings lassen sich damit keine mentalen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen begründen. Thomas Gensicke erklärt
diese »kühl-distanzierte Haltung beider Bevölkerungsgruppen zueinander« mit der mangelhaften staatsbürgerlichen Integration
ehemaliger DDR-Bürger. »Die alten Bundesbürger brauchten bisher die Distanz zu den neuen Bundesbürgern, um ihre zunehmenden
Systemzweifel verdrängen zu können. Und insbesondere diejenigen neuen Bundesbürger, die die Einheit stark getroffen hat, benötigten
wiederum den stereotypischen Wessi, um ihr Selbstwertgefühl abgrenzend zu wahren.«
Auch wenn sich Ost- und Westdeutsche bei ihrer Erfolgsorientierung und der Bewertung sozialer Standards nicht auseinanderdividieren
lassen, so zeigen sich bei der Beurteilung des bundesdeutschen Gesellschaftssystems geradezu eklatante Unterschiede. Auf die
Fragestellung beispielsweise: »In unserer Gesellschaft geht es im Allgemeinen gerecht zu«, tendieren die Ostdeutschen deutlich
zu »stimmt nicht«, während die Westdeutschen ihrer Gesellschaft ein weit höheres Maß an Gerechtigkeit zubilligen. In allen
Fragestellungen wird das bundesdeutsche Gesellschaftssystem von den Ostdeutschen zum Teil deutlich schlechter bewertet als
von den Westdeutschen. Und mehr noch, obwohl |208| nur eine kleine Minderheit der ehemaligen DDR-Bürger wieder in Verhältnissen leben möchte, wie sie zu DDR-Zeiten geherrscht
hatten, geben sie der DDR in vielen Detailfragen den Vorzug. Was persönliche Freiheit betrifft, Lebensstandard, Wirtschaft,
das politische System und die Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen, schätzen die ehemaligen DDR-Bürger das wiedervereinigte
Deutschland im Vergleich zur DDR besser ein. Dann aber, bei der Frage nach den beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, dreht
sich die Einschätzung deutlich zugunsten der DDR. Ebenso Anforderungen an die Gleichberechtigung der Frau, den Schutz vor
Kriminalität, an soziale Gerechtigkeit, an das Schulsystem und das gesellschaftliche Miteinander sehen Ostdeutsche in der
DDR weit besser erfüllt als im heutigen Deutschland. Und mehr noch, im Laufe der Jahre hat die Bundesrepublik bei den Ostdeutschen
im Systemvergleich stetig verloren und die DDR dazugewonnen. Seit einigen Jahren betrachten auch Westdeutsche ihr gesellschaftliches
Umfeld zunehmend kritischer. Sie gleichen sich darin der Sichtweise der ehemaligen DDR-Bürger an. »Ein politisches System«,
sagt Thomas Gensicke, »das seit der Wiedervereinigung noch keine wirklich und dauerhaft
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