Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
dir aus dem Kopf! Wir können dem Wärter ein paar Münzen zustecken, damit er dich in eine bessere Zelle verlegt und dir deine Sachen wiedergibt, und wir können dir dann und wann einmal ein wenig Brot bringen. Aber das ist auch schon alles. Wir sind keine reichen Wohltäter, Abby. Ein jeder von uns muss sehen, wo er bleibt. Wir haben vielleicht ein bisschen mehr als andere, zumindest manchmal, aber dafür riskieren wir auch unseren Hals. Stehlen oder sterben! heißt es bei uns. Eine andere Wahl gibt es für uns nicht. Und ich habe schon so einige Freunde sterben sehen. Was nun deine Mutter betrifft …«
Er stockte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Ich brauche dir eigentlich nichts zu sagen. Du weißt bestimmt selbst gut genug, dass sie sehr schwach und sehr krank ist. Ich glaube nicht, dass sie sich noch einmal erholen wird. Du musst der Wirklichkeit ins Auge sehen, Abby.«
»Kommt zum Ende!«, rief Putney. »Eure Zeit ist um!«
Abby fühlte bei seinen Worten keinen direkten Schmerz und auch keine Trauer, sondern mehr eine Art von Leere. Sie unternahm noch nicht einmal den Versuch, ihm zu widersprechen. Er hatte nur ausgesprochen, was sie schon vor ihrer Einkerkerung tief in ihrem Innersten gewusst hatte, ohne es sich jedoch eingestehen zu wollen.
»Bitte, tun Sie für meine Mutter, was Sie können«, bat sie leise, bückte sich nach dem angebissenen Streifen Schweinefleisch und erhob sich von der Bank.
»Du hast mein Wort«, versprach Frederick ernst.
»Danke.« Ihre Stimme war kaum zu hören.
»Ich werde versuchen dich einmal die Woche zu besuchen.
Versprechen kann ich es dir jedoch nicht. Es kommt immer darauf an, ob wir … gute oder schlechte Tage gehabt haben, du verstehst?«
Sie nickte.
Der Wärter kam vom Schemel hoch. » Schluss jetzt!«, rief er.
»Ist ja schon gut, Mann!«, rief Frederick ihm gereizt zurück.
»Du bist gut bezahlt worden und das nächste Mal wirst du dasselbe bekommen. Vergiss das nicht! Außerdem sind wir ja gleich so weit.«
»Hoffentlich«, brummte Putney und hantierte an seinem Schlüsselbund herum.
Frederick wandte sich ihr wieder zu. »Hier, nimm das mit!
Geh ein bisschen sparsam damit um!« Er schob ihr den Kanten Brot und den Käse durch das Gitter. Leise fügte er hinzu: »Pass beim Brot auf. Ich habe einen Eichensplitter darin versteckt. Er ist eisenhart und spitz und gibt eine gute Waffe ab. Damit kannst du jemanden umbringen, wenn es sein muss. Schau mich nicht so entgeistert an. Du bist in Newgate, wo alles Abscheuliche möglich ist, und nicht in einem Mädchenpensionat.
Also sei vorsichtig damit und versteck ihn gut. Vielleicht wirst du eines Tages auf ihn angewiesen sein, um dein Leben zu verteidigen!«
Abby nahm es und blickte ihn dann nachdenklich an.
»Warum tun Sie das, Frederick? Ich gehöre nicht zu Ihrer Bande und bin nicht die Einzige, die schuldlos in Newgate eingekerkert ist. Es wäre doch leicht gewesen, mich meinem Schicksal zu überlassen. Denn haben Sie vorhin nicht selbst gesagt, dass jeder selber zusehen muss, wo er bleibt?«
Ein merkwürdig spöttisches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Eine gute Frage, die ich mir auf dem Weg hierhin auch schon gestellt habe.«
»Sie werden doch einen Grund haben«, drängte Abby. Seine Antwort war ihr wichtig, ohne dass sie zu erklären vermochte, warum.
»Ich weiß nicht, warum ich es tue«, sagte er zögernd. »Auf keinen Fall, weil mich das Gewissen quälen würde oder so.
Nicht die Spur. Ich habe die Spielregeln, nach denen wir leben müssen, nicht erfunden, und versuche nur zu überleben. Ich weiß wirklich nicht, warum ich es tue. Vielleicht habe ich ein weiches Herz …«
Er lachte gezwungen auf und wurde schlagartig ernst. »Es stimmt nicht, was ich gesagt habe, Abby. Ich weiß sehr wohl, warum ich es tue.«
»Ja?«
»Weil ich Angst habe«, sagte er und blickte durch sie hindurch. Sein Blick war in eine Ferne gerichtet, die jenseits der Mauern lag.
»Sie haben Angst?«, fragte Abby überrascht. »Wovor?«
»Davor, eines Tages auf der anderen Seite des Gitters zu stehen. Vielleicht ist dann auch jemand da, der kommt, um mir zu helfen. Ich hoffe es sehr. Vermutlich bilde ich mir ein, dass das der Fall sein wird, wenn ich jetzt nur meinen Teil tue. Dabei ist es viel wahrscheinlicher, dass keiner auch nur einen Finger für mich rühren wird.«
Sein Eingeständnis berührte sie. »Das glaube ich nicht. Bestimmt werden Ihre Freunde …«
Barsch fuhr er ihr in die Rede.
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