Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
hatten jedoch die wenigsten. Ein unablässiges Gemurmel, Zähneklappern und Gefluche, vermischt mit dem nie endenden Kettengerassel, hatte den Wagen die ganze Nacht hindurch erfüllt. Den Sträflingen in den anderen Fahrzeugen war es bestimmt nicht anders ergangen.
Erst als sich der neue Tag erwärmte und sich die feuchte Kälte in den rollenden Zellen allmählich verflüchtigte, erstarb das Klagen und Seufzen für eine Zeit lang. Der ersehnte Schlaf senkte sich über sie und zog sie hinab in die unergründlichen Tiefen des Traumes. Auch Abby sank in den Schlaf, eingelullt vom gleichmäßigen Rattern und Rumpeln des Wagens.
Ein derber Knuff weckte sie Stunden später, und eine Hand versuchte ihren Kopf hochzudrücken, der auf etwas herrlich Weichem, Warmem ruhte.
»Ich bin noch so müde! … Lass mich noch was schlafen, Mutter«, bettelte Abby mit schlaftrunkener Stimme. Im Traum war sie in jene Zeit zurückgekehrt, als ihre Mutter noch gesund gewesen war und sie in der kleinen Dachwohnung gelebt hatten. In der Erinnerung wurde aus dem armseligen zugigen Verschlag und ihrer bitteren Not eine gemütliche Behausung, in der ihr gemeinsamer täglicher Kampf ums Überleben nicht nur erträglich, sondern geradezu ein Geschenk Gottes zu sein schien.
Es war ein schöner Traum gewesen, dessen Bilder jedoch plötzlich brüchig wurden und an Tiefe verloren. Sie nahm Geräusche und Gerüche wahr, die überhaupt nicht in diesen friedvollen Traum passten und ihn zu zerstören drohten. Ihr Unterbewusstsein sagte ihr, dass sie gleich erwachen und in die grausame Wirklichkeit zurückkehren würde. Doch sie wollte ihre Traumwelt nicht verlassen. Sie wehrte sich gegen das Eindringen dieser schrillen Stimmen und ekelhaften Gerüche in ihre harmonischen Traumbilder. Und sie versuchte sich so an das Warme, Weiche zu klammern, wie sie ihren Traum festzuhalten versuchte.
Vergeblich.
»Jetzt reicht es! Hoch mit dir! Verdammt noch mal, ich bin doch kein Kindermädchen! Was denkst du dir überhaupt? Ich hätte dich besser gleich weggestoßen!«
Rachels schroffe Stimme brachte Abby augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Sie setzte sich auf, blickte in das Halbdunkel und wurde sich bewusst, dass sie offenbar in Rachels Schoß geschlafen hatte.
»Entschuldige«, murmelte sie verlegen. »Ich bin einfach eingeschlafen und hab davon gar nichts gemerkt. Es tut mir Leid, wenn ich dir zur Last gefallen bin.«
»Zur Last! Das kannst du laut sagen!«, lamentierte Rachel und drückte das Kreuz gegen die Bretterwand. »Mir tut jeder Knochen weh. So hab ich mich verhalten, damit du weich in meinem Schoß liegst! Der Teufel mag wissen, was mich geritten hat, das zu erlauben.«
Abby wusste nichts darauf zu antworten und schwieg. Eine Frau im hinteren Teil des Wagens bekam einen heftigen Hustenanfall, der schnell in ein Würgen überging. Ein Baby schrie erbärmlich. Zwei Frauen stritten sich und bedachten sich mit den unflätigsten Beleidigungen, die sich zwei Menschen aus der Gosse nur ausdenken konnten.
Am liebsten hätte Abby sich die Ohren zugehalten. Doch sie wusste, dass das nichts nutzte. Die Stimmen, Gerüche und Bilder kamen längst nicht mehr nur von außen. Sie saßen schon drinnen in ihrem Kopf. Waren dort eingebrannt. Wie alt sie auch werden mochte, sie würden sie bis zu ihrem Tod begleiten.
Draußen wurden plötzlich Stimmen laut. Befehle mischten sich in das Rumpeln der Wagen und das eintönige Hufgetrappel. Der Kastenwagen wurde langsamer. Die eisenbeschlagenen Räder rollten knirschend auf sandigem Boden aus. Pferde wieherten und schnaubten. Zaumzeug klirrte.
»Wir halten an!«, rief eine der Sträflingsfrauen und ihre Stimme überschlug sich fast vor freudiger Erregung.
»Es muss Mittag sein! … Wir kommen raus!«, rief eine andere schrill und hämmerte vor Ungeduld gegen die Seitenwand. »Aufmachen! … Lasst uns raus! … Aufmachen! … Aufmachen!«
Im Handumdrehen nahmen alle Sträflinge diesen Ruf auf.
Die Stimmen schwollen in den Transportern zu einem Höllenlärm an. Seit sich der Tross noch vor Sonnenaufgang wieder in Bewegung gesetzt hatte, hatten die Gefangenen die qualvolle Enge Stunde um Stunde mit apathischer Ergebenheit ertragen.
Nun aber schlug die Apathie in Hysterie um. Die Aussicht, endlich wieder an die frische Luft zu kommen und sich für eine halbe Stunde die Beine vertreten zu können, brachte sie fast zur Raserei.
Abby merkte erst gar nicht, dass auch sie von der Raserei mitgerissen wurde, mit
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