Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
den Fäusten wie wild gegen die Bretterwand hämmerte und sich die Kehle aus dem Leib schrie. Es war Rachel, die sie mit einer Ohrfeige zur Besinnung brachte.
»Wie die Tiere!«, sagte sie voller Verachtung. »Schmeiß einen Kanten Brot unter sie, und sie werden sich gegenseitig umbringen!«
Abby atmete heftig und ließ ihre schmerzenden Fäuste in den Schoß sinken. Rachels Worte beschämten sie zutiefst, und es machte ihr Angst, dass sie sich von dieser Raserei hatte anstecken lassen. »Sie … sie sollen uns nur rauslassen«, sagte sie entschuldigend.
Rachel lachte grimmig auf. »Glaubst du wirklich, die Wachen lassen uns raus, solange wir so ein Spektakel veranstalten? Niemals!«, antwortete sie mit erhobener Stimme.
Rachel behielt Recht. Die Frauen schrien und schlugen gegen die Wände, doch die Türen blieben verriegelt. Als nichts geschah, verstummte das hysterische Geschrei, und das Gehämmer gegen die Wände wurde zu einem vereinzelten Pochen, das nun noch von dumpfer Resignation als von zornigem Aufbegehren zeugte.
»Wie die Tiere!«, wiederholte Rachel noch einmal mit gedämpfter Stimme, und obwohl Abby ihr Gesicht im Dunkel nicht sehen konnte, war sie doch sicher, dass ihr Mund zu einem geringschätzigen Lächeln verzogen war.
Es dauerte noch eine gute Weile. Dann erst wurden die Türen entriegelt und aufgerissen. Gleißendes Sonnenlicht flutete in den Kastenwagen und blendete sie.
Die Wachen schlugen mit ihren Schlagstöcken gegen die Seitenwände, während sie ihre Befehle schrien und die Sträflinge wie Vieh aus den Wagen trieben. Einige besonders herzlose Wachen machten sich einen Spaß daraus, die ganz Schwachen und Langsamen zu Boden zu stoßen, wenn sie halb blind und mit zittrigen Gliedern aus den Wagen ins Freie taumelten.
Abby und Rachel kamen ohne Stockhiebe davon. Sie wankten durch die Gasse, die die Wachmannschaft gebildet hatte.
Sie führte die Sträflinge auf eine große, saftig grüne Wiese. Ein klarer Bach schlängelte sich mit leisem Gluckern durch das frische Grün, das sich bis zum Horizont erstreckte. Rechter Hand, aber noch eine gute halbe Meile entfernt, zeichneten sich die Umrisse eines Gehöftes von stattlichen Ausmaßen ab.
Abby blinzelte in das helle Licht der Frühlingssonne, sog den herrlichen Duft der bunten Wiesenblumen tief in sich ein und empfand das fröhliche Gezwitscher der Vögel, die auf Bäumen und Sträuchern nah der Landstraße saßen, wie ein kostbares Geschenk.
»Mein Gott, klares Wasser!«, stieß Rachel hervor, als sie sich wie die anderen am Ufer des Baches ins Gras sinken ließen, um ihren Durst zu stillen. Sie hatten Glück, dass ihr Wagen als einer der ersten geöffnet worden war und sie eine Stelle oberhalb von ihren Mitgefangenen ergattert hatten.
Kaum hatten sie genug getrunken, als der Strom der Sträflinge aus den anderen Wagen den Bach zu beiden Seiten bevölkerte, auch oberhalb von ihnen. Nicht wenige trampelten dabei einfach durch den Bach oder wuschen sich Dreck und Erbrochenes von den Kleidern, noch bevor die anderen ihren Durst gelöscht hatten. Innerhalb weniger Augenblicke trübte sich das kristallklare Wasser und verwandelte sich in eine dreckige Brühe. Das hinderte die neu Dazugekommenen jedoch nicht daran, davon zu trinken.
Wenig später wurde hartes, trockenes Brot verteilt. Gierig schlangen sie ihr karges Mittagessen hinunter. Es reichte zwar nicht, um ihnen das Gefühl wohliger Sättigung zu geben. Doch es nahm ihnen den nagenden Hunger und stimmte sie vorübergehend versöhnlicher mit ihrem Schicksal.
»Wie wird es erst auf dem Schiff sein, wenn die Bastarde uns hier schon wie Vieh abfertigen«, meinte Rachel mit finsterer Miene.
»Wir haben Newgate überlebt, dann werden wir auch die Überfahrt nach New South Wales überleben«, antwortete Abby zuversichtlich und genoss mit geschlossenen Augen die schon recht warme Frühlingssonne auf ihrem blassen, ausgezehrten Gesicht.
»Was verstehst du schon vom Überleben!«
Abby öffnete die Augen und sah sie ärgerlich an. Die herablassende Art, mit der Rachel sie behandelte, hatte sie schon von Anfang an verdrossen. Jetzt reichte es ihr. »Du bist natürlich eine Hellseherin, nicht wahr?«, sagte sie zornig. Eine Wut flammte in ihr auf, die sie selber am meisten überraschte.
»Ich? Warum?«, fragte Rachel überrascht.
»Weil du ganz genau zu wissen scheinst, wie schlecht oder gut es mir und all den anderen im Vergleich zu dir ergangen ist!
Offenbar bist du die Einzige, der
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