Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
würdest, wenn du ganz ehrlich bist.«
Abby zog es vor zu schweigen, weil sie nicht wieder lügen wollte. Sie sah, wie Rachel neben ihr nickte, als wäre ihr ihre stumme Reaktion Bestätigung genug.
Sie schwiegen eine Weile. Doch diesmal hatte ihr Schweigen nichts Trennendes an sich.
»Meine Mutter war dem Alkohol verfallen«, sagte Rachel dann unvermittelt und so leise, dass Abby sie gerade noch verstehen konnte. »Meinen Vater habe ich nie gekannt. Meine Mutter wohl auch nicht … höchstens die eine Stunde, die er in ihrem Bett verbracht hat. Vielleicht haben sie sich noch nicht mal so lange gekannt. Manche Männer blieben keine zehn Minuten.«
Rachels Stimme klang so teilnahmslos und gleichgültig, als erzählte sie von einem ganz alltäglichen Erlebnis, das völlig ohne Belang war und die Erwähnung nur deshalb verdiente, weil es sonst nichts zu bereden gab.
Abby fuhr ein Schauer über den Rücken und auf den Armen stellten sich Millionen kleinster Härchen zu einer Gänsehaut auf. Sie wollte sich über die Arme reiben, wagte jedoch nicht, sich zu bewegen.
»Ich war keine acht, als ich sie das erste Mal besinnungslos in ihrer Kammer fand«, fuhr Rachel in einer unwirklichen Art Plauderton fort, »in einer Lache aus Gin und Erbrochenem.
Der Mann, mit dem sie zuvor zusammen war, hatte ihr an Stelle von Geld Gin gegeben. Egal, wie wir auch sonst hungern mochten, Gin gab es immer bei uns. Mutter trank den billigsten Gin, den die hart gesottenen Bergleute in unserer Gegend vermutlich noch nicht mal geschenkt getrunken hätten. Es war ein Fusel, der ihr über die Jahre hinweg die Innereien zerfraß und das Augenlicht raubte. Doch am Gin ist sie nicht gestorben, wenn du das denkst. So schnell ist es mit ihr auch nicht gegangen … leider nicht.«
Sie machte eine Pause und setzte ihren erschreckenden Lebensbericht dann mit unverändertem Tonfall fort: »Als ich zehn war, fasste ich den festen Entschluß, von ihr wegzulaufen. Damals versuchte meine Mutter immer wieder, mich an »großzügige Männer«, wie sie es nannte, zu verkuppeln. Sie wollte, dass ich meinen Körper verkaufte so wie sie. Ich war damals recht hübsch, und ich wusste, dass andere Mädchen in meinem Alter schon mit Männern gegen Geld das Bett teilten.
Nur ein paar Straßen weiter gab es sogar ein recht vornehmes Haus, in dem die ältesten Mädchen gerade sechzehn waren.
Wer da arbeiten konnte, wurde von den Straßenmädchen beneidet. Voller Stolz teilt mir meine Mutter mit, dass man mich dort aufnehmen und ich viel mehr Geld verdienen würde, als ich mir vorstellen könnte. Doch so ergeben und gehorsam ich sonst auch war, was das betraf, widersetzte ich mich ihr mit Händen und Füßen. Nach einer fürchterlichen Nacht, als sie mich mit einem Mann mitten in der Nacht aus dem Schlaf holte und ich ihm das Gesicht zerkratzte und wie eine Wahnsinnige um mich schlug und biss, gab sie diese Versuche auf.
Es war Februar damals, als dies passierte und ich mich entschloss, meine Mutter sich und ihrem Gin zu überlassen. Im Sommer wollte ich los. Weg aus dieser dreckigen Stadt Sheffield und ab nach London, der Stadt der Verheißungen. Doch ich wartete ein paar Monate zu lange – und als mein Bruder Jacob im Juli zur Welt kam, war es zum Weglaufen zu spät. Da konnte ich einfach nicht mehr. Es wäre sein Tod gewesen, denn wer hätte sich um ihn gekümmert, wenn ich davongelaufen wäre? Meine Mutter konnte ja kaum für sich allein sorgen, geschweige denn für ein hilfloses Baby. Noch nicht mal gestillt hat sie ihn, und es war ein Wunder, dass er überhaupt durchgekommen ist.«
Wieder unterbrach Rachel ihren Bericht für einen langen Augenblick, als gingen ihre Gedanken vorübergehend eigene Wege, die unaussprechlich waren. Dann nahm sie den Erzählfaden wieder auf:
»Jacob war eigentlich mein Kind. Meine Mutter hat ihm nie einen zweiten Blick geschenkt. Für sie war er immer nur der ›Schreihals‹, der nimmersatte ›Fresser‹ oder bestenfalls einfach nur der ›Junge‹. Er hat ihr nie etwas bedeutet … ebenso wenig wie ich. Vielleicht hätte ich damals dennoch gehen sollen, denn dass ich geblieben bin, hat ihm letztlich doch nichts genutzt. Er wäre dann eben gleich in der ersten Woche gestorben und hätte später nicht so zu leiden brauchen. Es wäre wohl für uns alle besser gewesen. Aber hinterher ist man immer um ein bisschen schlauer als vorher.«
Als Rachel hier abbrach und länger schwieg, als sie das bisher während des Erzählens
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