Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
getan hatte, wagte Abby zum ersten Mal eine Frage zu stellen.
»Was ist aus deinem Bruder geworden?«
»Jacob ist gerade alt genug geworden, um von meiner Mutter an einen Agenten verkauft zu werden, der Kinder an Minenbesitzer vermittelte. Neun war er da. Meine Mutter brauchte dringend Geld, weil sie von dem vielen Gin immer aufgedunsener wurde und nicht mehr anziehend auf Männer wirkte. Und je weniger die Männer zu ihr kamen, desto mehr suchte sie Trost und Vergessen im Gin. Ich konnte Jacob nicht helfen, weil ich krank war. Als ich davon erfuhr, dass sie ihn wie ein Stück Möbel verschachert hatte, war es schon zu spät.
Der Agent hatte ihn sofort mitgenommen und Jacob schuftete schon in irgendeinem der Bergwerke rund um Sheffield. Er kroch zwölf Stunden und länger am Tag durch die niedrigen Stollen, zog die Wagen mit dem Erz hinter sich her, watete mit nackten Füßen durch das Wasser, das sich immer wieder in Mulden auf den Stollenboden sammelt, und atmete tagaus, tagein die staubige Luft ein. Wie ich meine Mutter beschwor, mir den Namen des Agenten zu nennen und Jacob aus dem Bergwerk zu holen, und was ich auch versuchte, es blieb fruchtlos. Ich sah Jacob nicht wieder.«
»Du hast nie wieder von ihm gehört?«, fragte Abby und hatte Mühe, sich ihre tiefe Ergriffenheit nicht anmerken zu lassen. Sie spürte, dass Rachel eines auf gar keinen Fall wollte – und zwar Mitleid.
»Oh, doch, gehört habe ich schon noch von ihm«, antwortete Rachel leichthin. »Sonst säße ich heute wohl auch nicht in diesem Wagen. Es war gut ein Jahr, nachdem sie meinen Bruder für ein paar Shilling verkauft hatte. Ich hatte Arbeit in einer Tuchweberei gefunden und wohnte nicht mehr bei meiner Mutter, doch ich suchte sie ab und zu auf, immer in der Hoffnung, irgendwann einmal doch noch etwas über Jacobs Schicksal zu erfahren. Das mit London hatte ich aufgeschoben. Ich konnte einfach nicht aus Sheffield weg, ohne zu wissen, was aus meinem kleinen Bruder geworden war.
Fast auf den Monat drei Jahre sind es her, dass ich meine Mutter mal wieder aufsuchte. Es war spät am Abend, als ich von der Arbeit aus der Fabrik kam. Meine Mutter hatte einen Mann mitgebracht und beide waren betrunken. Normalerweise wäre ich sofort wieder gegangen, wenn sie nicht so geschrien hätte. Sie hatte Streit mit dem Mann, der sie mit dem Messer bedrohte, sich aber kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nur deshalb gelang es mir auch, ihm das Messer abzunehmen und ihn aus dem Zimmer zu jagen. Doch das passte meiner Mutter nun erst recht nicht. Sie begann zu toben und schlug mich mit der Flasche …«
Abby sah, wie Rachel gedankenverloren über die lange Narbe über ihrem rechten Auge strich, und wusste nun, woher sie stammte.
»Ich stürzte blutüberströmt zu Boden«, fuhr Rachel nach kurzem Stocken fort, »während sie wie wahnsinnig auf mich einbrüllte, mich beschimpfte und dann auf einmal schrie: ›Verdammte Brut, der Teufel soll dich undankbares Geschöpf holen. Dann habe ich endlich Ruhe von dir und deinem ewigen Gejammer um Jacob! Jacob ist tot, hörst du? Schon seit Monaten, bei einem Stolleneinbruch erschlagen, damit du es endlich weißt!‹ Ja, das schrie sie mir lallend ins Gesicht. Mein Bruder war schon lange tot, und sie hatte es die ganze Zeit gewusst und mir verschwiegen.«
Rachel holte tief Atem. »Dann habe ich sie erstochen. Bis nach London bin ich wirklich noch gekommen. Dort hat man mich geschnappt. Sie wollten mich hängen. Doch ich wurde zu lebenslänglich begnadigt. Ja, und jetzt ist daraus Verbannung geworden, was wohl ein und dasselbe ist. So, Abby, jetzt weißt du endlich, mit wem du das Fußeisen teilst.«
In Newgate hatte Abby viele Geschichten zu hören bekommen, die von allen nur erdenklichen Scheußlichkeiten und menschlichen Abgründen gehandelt hatten. Doch nichts hatte sie so erschüttert, wie Rachels leidenschaftsloses Bekenntnis, das weder irgendetwas zu rechtfertigen versuchte noch um Anteilnahme heischte. Ja, vielleicht rührte es sie gerade deshalb so auf, eben weil sie alles so sachlich und scheinbar gänzlich unbeteiligt erzählt hatte. Doch sie spürte, dass sich hinter dieser vorgetäuschten Teilnahmslosigkeit der Schmerz um den geliebten Bruder und das jahrelange Märtyrium wie ein stummer Schrei verbargen.
Abby hätte gern etwas gesagt oder einfach nur ihre Hand gedrückt, um ihr zu verstehen zu geben, wie betroffen sie sich fühlte. Doch sie hatte Angst, das falsche Wort zu treffen und
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