Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
Kraft, mit den Dingen fertig zu werden, die noch vor dir liegen. Und ich gehe jede Wette ein: auf der Überfahrt und in dieser verdammten Sträflingskolonie New South Wales, an welchem gottverlassenen Ende der Welt sie auch liegen mag, wartet bestimmt noch so einiges, mit dem wir fertig werden müssen, wenn wir nicht draufgehen wollen! Lass dir das gesagt sein.«
»Ja, vermutlich«, murmelte Abby bedrückt.
Abby mochte nicht länger darüber sprechen, obwohl sie sich irgendwie leichter fühlte, nachdem sie Rachels Geschichte erfahren und ihr alles über sich erzählt hatte. Und sie wünschte, auch weiterhin mit ihr zusammenbleiben zu können.
»Wenn du nichts dagegen hast, können wir doch versuchen, auch auf dem Schiff zusammenzubleiben«, sprach sie ihren Wunsch aus – und wartete voller Bangen auf ihre Antwort.
Rachel ließ sich Zeit. Schließlich sagte sie gleichmütig: »Wenn’s möglich ist, warum nicht. Scheint ja nichts dagegen zu sprechen. Könnte es schlimmer treffen als mit dir.«
Abby freute sich, als hätte sie ein wunderbares Geschenk erhalten, und genau betrachtet war das ja auch der Fall. Sie strahlte über das ganze Gesicht, was Rachel glücklicherweise nicht sehen konnte. Denn für allzu überschwängliche Gefühlsäußerungen hatte sie offenbar nicht viel übrig. Und deshalb erwiderte sie darauf, Rachels gleichmütigen Tonfall imitierend:
»Ja, und du bist auch gar nicht mal so übel, wenn man sich erst mal an dich gewöhnt hat.«
Doch sie beide wussten, dass sie damit Freundschaft geschlossen hatten. Etwas Kostbareres konnte Abby sich nicht vorstellen – die Freiheit einmal ausgenommen.
Zehntes Kapitel
Am Abend gab es eine wässrige Suppe mit Graupen und Kartoffelstücken, die schon lauwarm vom Feuer kam und in den Blechnäpfen der Sträflinge im Handumdrehen kalt war.
Wer mehr als ein Dutzend Graupen und halb so viele Kartoffelstücke in seinem Napf fand, konnte sich glücklich schätzen.
Zwar stillte die Suppe den Hunger, doch dieses trügerische Sättigungsgefühl würde sich nach kurzer Zeit wieder verflüchtigen, hatten sie doch kaum mehr als angewärmtes Wasser zu sich genommen.
Die Wachmannschaften ließen es sich dagegen gut gehen.
Sie hatten sich bis auf die diensthabenden Wachposten um die wärmenden Feuerstellen versammelt, dicke Kartoffeln an den Rand der Glut gelegt und lange fleischgespickte Spieße über die Flammen gehalten. Und während das Fleisch brutzelte und der Saft zischend in der Glut verdampfte, machten große Krüge mit Branntwein unter ihnen die Runde.
Mit großen Augen, in denen Gier, Hass und Hoffnungslosigkeit standen, starrten die Sträflinge zu den Feuern hinüber, wünschten sich, nur einmal die klammen Hände über den hell lodernden Flammen wärmen zu dürfen. Und was hätten sie für die angekohlten Stücke Fleisch oder Kartoffeln gegeben, die die Männer als ungenießbar ins Feuer warfen.
Abby musste unablässig schlucken, während sie den Männern beim Essen zusah. Als sie den Kopf wandte, fiel ihr Blick auf das Gesicht der jungen Frau, die in Newgate ein Kind zur Welt gebracht und das Baby nun an die Brust gelegt hatte, um es zu stillen. Tränen liefen ihr über das ausgezehrte Gesicht mit den tiefen Augenhöhlen, während das winzige, in Lumpen gewickelte Geschöpf an ihrer Brust saugte, die wohl kaum noch Milch hergab. Sie weinte lautlos, den Blick auf die Männer am Feuer gerichtet und den Bratengeruch in der Nase. Keine zwanzig Schritte trennten beide Lager, doch es hätten ebenso gut zwanzigtausend Meilen sein können.
Abby ertappte sich an diesem Abend zum ersten Mal dabei, wie sie den mitleidlosen Männern die Pest an den Hals wünschte, ja, sogar das wilde Verlangen zu töten verspürte. Sie erschrak zutiefst, als sie merkte, was in ihr vor sich ging. War es bereits so weit mit ihr gekommen, dass sie womöglich schon wegen einer Kartoffel oder eines Stückes Fleisch jegliche Hemmungen verlor? Begann sie schon so zu werden wie Nellie und Celia? Wie die Tiere, wie Rachel immer wieder über die anderen Sträflinge in ihrem Wagen urteilte.
»Vermutlich ist es bloß eine Frage der Zeit, bis wir wie die Tiere werden«, dachte Abby entsetzt über ihre Erkenntnis.
»Bei manchen dauert es wohl nur länger als bei anderen. Oh, mein Gott, lass mich nicht so werden …«
In der Nacht begann es zu regnen. In Strömen prasselte der Regen auf die Dächer der Kastenwagen, die die Feuchtigkeit nun genauso leicht durchließen wie die
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