Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
und zeigte ungewollt ihre Enttäuschung.
»Würde es dir Leid tun?«, fragte er mit einem warmherzigen Lächeln.
»Ja, sehr«, gestand sie und senkte den Blick, weil es einem Sträfling wie ihr eigentlich nicht zustand, solch persönliche Bemerkungen von sich zu geben.
Er lachte. »Na, noch ist es ja nicht so weit. Und nun geh zu Sarah. Mit meinem Bruder komme ich schon klar. Na, lauf schon! Bestimmt ist sie in der Küche und bringt Rosanna zur Weißglut, weil sie ihr ständig im Weg ist.«
Abby fühlte sich niedergeschlagen, als sie den Hof überquerte. Dass Melvin die Farm verlassen wollte, ging ihr irgendwie nahe. Er war von Anfang an freundlich zu ihr gewesen und unterhielt sich dann und wann einmal ernsthaft mit ihr – so wie eben. Und nie hatte sie das Gefühl, dass er sie als Sträfling sah oder als junges Mädchen, das zu dumm für eine vernünftige Unterhaltung war. Gerade ihn zu verlieren, würde sie wirklich sehr schmerzen.
Rosanna knetete einen schweren Ballen Teig, als Abby zur Küche hineinschaute. »Sarah? Nein, dieser kleine Teufelsbraten ist nicht bei mir«, schnaufte sie. »Wir sind uns was in die Haare geraten, und dann sie sie eben auf und davon, das kleine Fräulein.«
»Aber das darf sie doch nicht! Allein soll sie das Haus doch nicht verlassen!«
Die Köchin schenkte ihr einen gequälten, schuldbewussten Blick. »Ich weiß, ich weiß. Hab Mister Chandler schon tausendmal gesagt, dass ich ihm alles koche, was er sich nur wünscht, aber dass ich nicht zum Kindermädchen geschaffen bin. Ich weiß, ich hätte hinter ihr herlaufen und sie zurückholen sollen, aber der Teig wartet doch nicht … und ein bisschen ärgerlich auf dieses kleine Luder war ich schon.« Sie sah Abby bittend an.
»Schon gut, ich find sie schon, Rosanna, und Mister Chandler wird nichts davon erfahren, dass du sie hast entwischen lassen«, versicherte Abby, denn sie verstand sich gut mit der Köchin, die ein gutes Herz hatte, aber kein Gespür für Kinder besaß.
Rosanna war sichtlich erleichtert. »Du bist ein Goldstück!«
Abby fand Sarah weder in ihrem kleinen Zimmer, das zum Fluss hinausging, noch auf der hinteren Veranda, wo sie sonst gern spielte. Sie hielt sich auch nicht in der Scheune auf.
»Suchst du jemanden?«, fragte Vernon Spencer, der stiernackige Schmied, der gerade eines der Pferde beschlug.
»Ja, Sarah.«
»Die ist gerade da runtergelaufen«, sagte Vernon Spencer und deutete mit dem Hammer in Richtung Fluss. »Aber wenn dich jemand fragt, woher du das weißt, dann lass meinen Namen aus dem Spiel, Abby. Ich kümmere mich um meine Arbeit und sonst gar nichts.«
»Ja, danke, Vernon«, sagte Abby und lief los. Allein zum Ufer des Hawkesbury zu gehen, war Sarah strengstens verboten, doch es lockte sie immer wieder hinunter an den breiten Strom – vielleicht gerade weil es verboten war.
Abby rannte so schnell sie konnte über den schmalen Pfad, der sich durch die Hügel schlängelte und dann einem langen, sanft abfallenden Hang hinab zum Ufer folgte. Dort hatten die Männer erst vor kurzem einen Anlegesteg aus schweren Baumstämmen errichtet. Es gab Flussschiffer auf dem Hawkesbury, die die Siedler entlang des Stromes mit allen nötigen Waren versorgten, sofern sie erhältlich waren, und zur Erntezeit die Säcke mit Mais, Weizen und Gemüse nach Sydney brachten. Einer dieser Flussschiffer hatte den Chandlers ein kleines Boot aus Sydney im Schlepptau mitgebracht, sodass sie auch mal auf dem Fluss fischen oder ihn überqueren konnten.
Eine richtige Floßfähre, mit der man auch Tiere von einem Ufer ans andere bringen konnte, war auch in Planung. Ach, es war so viel in Planung, dass es besser war, nicht an die viele Arbeit zu denken, die noch darauf wartete, erledigt zu werden.
»Abby! … Ich bin hier!«, schallte die klare Kinderstimme von Sarah zu Abby vom Bootssteg herauf.
Abby war erleichtert, zwang sich aber zu einer ernsten Miene, als sie Sarah erreicht hatte. »Was treibst du hier? Du weißt doch ganz genau, dass es dir verboten ist, allein zum Fluss zu gehen! Wenn dein Vater davon erfährt, wird Rosanna schrecklichen Ärger bekommen. Willst du das?«
Sarahs fröhliches Lächeln erlosch und kleinlaut antwortete sie: »Nein, das nicht … aber es war so schrecklich langweilig bei ihr. Sie redet immer nur von irgendwelchen Rezepten oder von der Königin.«
Abby schmunzelte. »Das interessiert sie nun mal, und auf ihre Art meint sie es auch nur gut. So, und nun nimm deine Alice und lass uns
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