Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
zum Haus hochgehen.«
Sarah bückte sich nach ihrer Puppe, die sie ins hohe Ufergras gelegt hatte. Im selben Augenblick bemerkte Abby die gleitende Bewegung zwischen den Beinen der Stoffpuppe und sah den schwarzgelb gefleckten Körper einer Schlange.
Geistesgegenwärtig stieß sie Sarah zurück, und zwar so heftig, dass sie zwei, drei Schritte zurücktaumelte und dann mit einem Aufschrei zu Boden stürzte.
»Abby!«, schrie Sarah fassungslos über diesen brutalen Stoß und wollte losweinen.
»Ganz still!«, rief Abby eindringlich. »Eine Schlange. Komm nur nicht näher!«
Sarah erstarrte, wurde bleich wie Porzellan. Vergessen waren Schmerz und Empörung. »Meine Puppe!«, flüsterte sie angsterfüllt.
»Ssscht!«, zischte Abby. Dies war nicht die erste Schlange, die ihr begegnete. Rodung von wildem, bisher unberührtem Land brachte es mit sich, dass Schlangen aufgescheucht wurden. Und sie hatte lernen müssen, sich vor ihnen nicht nur in Acht zu nehmen, sondern sie auch schnellstens zu töten. Denn nicht immer war eine Flinte zur Hand, die außerdem nur die Chandlers mit sich führten.
Ganz langsam zog Abby sich zurück, hielt Ausschau nach einem dicken Knüppel und entdeckte einen, den der Fluss angeschwemmt hatte. Sie hob ihn auf, umklammerte ihn und näherte sich wieder der Stelle, wo die Schlange lag. Sie war sicher, dass sie es mit einer giftigen zu tun hatte, und ihr Herz schlug wie wild. Eine unbedachte Bewegung, und die Schlange würde sie angreifen.
Noch einen Schritt, und sie war nahe genug, um sie mit dem Knüppel zu töten, wenn sie nur schnell genug war und ihr Ziel nicht verfehlte.
Das Reptil war gewarnt. Die Erschütterung des Bodens hatte die Schlange aufgeschreckt. Sie hatte den flachen Kopf vorgestreckt und den Rachen aufgerissen, bereit zum Angriff.
Abby schluckte, überwand ihre Angst und ließ den Knüppel niedersausen. Mit aller Kraft schlug sie zu, und sie merkte gar nicht, dass sie laut schrie, als der erste Schlag das Reptil verfehlte. Die Schlange schoss vor – krümmte sich dann unter dem zweiten Hieb, der sie hinter dem Kopf traf. Sie schlug ihre Zähne in den Knüppel, versprühte ihr Gift gegen das Holz und wickelte sich blitzschnell um den Ast. Doch bevor die Schlange ihre Hand erreichen konnte, hatte Abby den Knüppel schon weit von sich geschleudert. Er klatschte ins Wasser und wurde von der Strömung schnell flussabwärts getragen.
Einen Augenblick stand Abby, am ganzen Körper zitternd, da. Dann hörte sie Sarah weinen und der Schreck wich von ihr.
Schnell hob sie die Puppe auf, ging zu Sarah und nahm sie in die Arme. »Ist ja schon gut, hier hast du deine Alice. Jetzt weißt du, warum du dich nicht vom Haus entfernen sollst. Lass es dir eine Lehre sein«, sagte sie und wischte ihr die Tränen vom Gesicht.
»Sie war giftig und hätte mich gebissen, nicht wahr?«, schluchzte Sarah.
»Ja, das hätte sie wohl.«
»Dann hast du mir das Leben gerettet.«
Abby fuhr ihr liebevoll über den Kopf. »Ich habe nur getan, was jeder andere an meiner Stelle auch getan hätte, Sarah.«
»Meinst du?« Sarah blickte sie schniefend und unsicher an.
Dann leuchteten ihre Augen auf. »Ich werde es Andrew und Melvin und auch Vati erzählen. Sie werden stolz sein und dich bestimmt nicht mehr so schwer arbeiten lassen, und dann können wir den ganzen Tag zusammen sein!«
Abby lachte. »Das lässt du besser bleiben, wenn du nicht willst, dass dein Vater dir den Hosenboden versohlt. Denn wenn du ihm davon erzählst, erfährt er ja auch, dass du ungehorsam und hier am Fluss gewesen bist.«
Sarah blickte ganz traurig, sah jedoch ein, wie Recht Abby damit hatte.
»Wir behalten das Ganze für uns, Sarah. Das mit der Schlange ist unser Geheimnis. Es ist doch schön, wenn man ein Geheimnis hat, das man mit jemandem teilen kann, oder?«
Das munterte Sarah wieder auf. »O ja, ich hab noch nie ein richtiges Geheimnis gehabt.«
»Na, also! Und jetzt lass uns zurückgehen, bevor noch jemand merkt, wo du gewesen bist«, sagte Abby, nahm sie an die Hand und begann ihr eine Geschichte zu erzählen.
Vierzehntes Kapitel
Die Wochen verstrichen. Es war eine endlose Kette arbeitsreicher Tage. Doch Abby beklagte sich nicht. Sie war gesund und gerne im Freien. Harte körperliche Arbeit erschien ihr nicht halb so schlimm wie die Monotonie und Untätigkeit in einer Kerkerzelle oder im Zwischendeck eines Sträflingsschiffes. Und wenn sie auch nicht über die Kraft der Männer verfügte, so gab es
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