Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
war.
Andrew blickte sich in der Hütte um, kratzte sich dann am Kinn und sagte dann scheinbar ohne jeden Zusammenhang:
»Mein Bruder hat mir erzählt, dass er dir manchmal Bücher ausleiht, weil du gerne liest«, sagte er und klang wieder verdrossen, als passte ihm das gar nicht.
»Ja, wenn ich dazu komme.« Melvin hatte sie einmal dabei überrascht, wie sie die Bücher im Regal in der kleinen Halle bewundernd betrachtet hatte, und er hatte ihr angeboten, sich eines auszuleihen, wann immer sie das mochte. Ein Angebot, dass sie mit Freuden angenommen hatte, auch wenn sie nach der Arbeit nur noch selten die Konzentration zum Lesen aufbrachte. Doch ein Buch unter ihrem Kopfkissen zu haben war etwas Wunderbares und erinnerte sie an jene Zeit, als sie zu Hause selbst noch Bücher besessen hatte. Doch in der schweren Zeit hatte ihre Mutter sie dann nach und nach verkauft.
Andrew druckste einen Moment herum, und sein Gesicht nahm einen noch verkniffeneren Ausdruck an, dass Abby schon das Schlimmste befürchtete. Dann zog er ein kleines, ledergebundenes Buch aus seiner Jackentasche. Jetzt bemerkte Abby erst, dass er seine linke Hand bandagiert hatte, und fast hätte sie schadenfroh gelächelt.
»Na ja, wenn du dir so viel aus Büchern machst …«, brummte er und hielt ihr das Buch hin.
»Was ist damit?«, fragte Abby verwirrt.
»Du kannst es haben, wenn du möchtest. Ich hab es heute zufällig in meiner Seekiste gefunden, als ich darin gestöbert habe. Ich weiß nicht, ob du so etwas liest. Ist ein Stück von einem Burschen namens Shakespeare, soll ein ziemlich bekannter Schriftsteller gewesen sein, der aber schon ein paar Jahrhunderte tot ist, wie Melvin sagt. Ich verstehe davon nicht viel.
Gelesen habe ich von ihm jedenfalls noch nichts, aber das hat ja nichts zu sagen.« Die Worte kamen ihm hastig über die Lippen, und er vermied es, ihrem erstaunten Blick zu begegnen. »Ich dachte nur, du würdest es vielleicht gern haben wollen …«
Abby wusste nicht, was sie sagen sollte und murmelte dann nur ein leises »Danke«. Sie blickte auf den Lederrücken und las: »William Shakespeare – Ein Sommernachtstraum.«
»Das … das war alles«, sagte er schroff, wandte sich um und machte, dass er aus der Hütte kam.
Mit dem Buch in der Hand saß Abby auf ihrem Bett und blickte noch ganz verstört auf die Tür, als sie längst hinter ihm zugefallen war. Es erschien ihr wie ein Traum, dass Andrew zu ihr gekommen war und ihr so ein kostbares Geschenk gemacht hatte. Doch genau das war geschehen.
Sie lächelte plötzlich. Andrew hatte sich bei ihr entschuldigen wollen. Nicht mit Worten, wie er sie auch nicht mit Worten herausgefordert hatte, sondern auf die einzig mögliche Art, die es ihm gestattete, dabei sein Gesicht zu wahren, und die so typisch für ihn war: durch eine Tat, die für sich selbst sprach.
Fünfzehntes Kapitel
Das zweite Halbjahr flog nur so dahin, und das Leben auf Yulara ging seinen vertrauten Weg, folgte den Notwendigkeiten der wechselnden Jahreszeiten und verlor für alle ein wenig an Härte, weil die erste Aussaat gut angeschlagen war und die Ernte trotz der schweren Regenstürme doch noch einen guten Ertrag brachte. Jonathan Chandler und ganz besonders sein Sohn Andrew bewiesen auch bei der Aufzucht eine gute Hand. Im Frühjahr sah man nicht nur zehn gesunde Lämmer und zwei Kälber bei ihren Müttern auf der Weide grasen, sondern auch ein prächtiges Fohlen, das Andrews Lieblingsstute Samantha geworfen hatte, tobte ausgelassen auf seiner Koppel. Es war ein Halbjahr, mit dem die Chandlers zufrieden sein konnten und das keine unangenehmen Überraschungen gebracht hatte – von der unerfreulichen Geschichte mit Sean Oxley einmal abgesehen.
Es war zu Beginn des neuen Sommers, als Jonathan Chandler bei einem nächtlichen Rundgang den Iren auf frischer Tat dabei ertappte, wie er in den Vorratsschuppen einbrach und ein Fass Rum anstechen wollte.
Sträflingen, die in New South Wales erneut straffällig wurden, drohte schwerste Bestrafung. Diebstahl wurde besonders hart geahndet. Mindestens zweihundert Peitschenhiebe und Verlegung in ein Arbeitslager, wo die Rückfälligen ein hartes Leben erwartete, waren die Regel.
»Eigentlich müsste ich ihn melden und nach Parramatta schicken, damit er vor ein Gericht gestellt wird«, sagte Jonathan, als er sich am Morgen mit seinen Söhnen besprach.
»Man wird ihn nach Norfolk Island schicken oder auf die Kohlefelder bei Coal Harbor, wo die Leute wie die
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