Abdahn Effendi. Kleinere Erzählungen
waren, fragte Halef:
»Sihdi (Herr), soll ich dir sagen, was wir beide jetzt denken?«
»Nein,« antwortete ich.
»Warum nicht?«
»Weil ich es schon weiß.«
»So sage du es! Ich bin überzeugt, daß du genau dasselbe denkst wie ich!«
»Ganz richtig! Wir denken beide, daß wir nun erst recht Ben Adl, dem Sägemüller, gehen. Der wird höchstwahrscheinlich ein braver Mensch sein!«
»Ganz meine Ansicht! Ich habe ihn jetzt schon lieb! Wen so ein dicker, schielender, habsüchtiger Abdahn haßt, der verdient gewiß, daß man ihm Achtung und Vertrauen schenkt. Hast du gerochen, wie der Effendi stank, als er vor uns die Treppe emporstieg?«
Ich nickte nur. Da fuhr er fort:
»Er stank nach allen möglichen schlechten Düften, besonders aber nach Geist-und Seelenlosigkeit. Geh, lauf, Effendi, damit wir schneller vorwärts kommen!«
Er verdoppelte die Schritte seiner kleinen, kurzen Beine und zwang mich dadurch, auch meinerseits ein schnelleres Tempo einzuschlagen. Nach einer halben Stunde erreichten wir den ersten, von rechts her kommenden Bach, nach einer zweiten halben Stunde den, der von der linken Seite kam und sich, wie der erstere, in das Hauptwasser ergoß. Das Tal, dem wir folgten, war oft sehr breit, zuweilen aber auch ebenso schmal, immer aber von dichtem Unterholz besetzt, aus dem die Kronen hoher Bäume ragten. Es gab hier einen Holzreichtum, der für Persien beinahe als Wunder zu betrachten war. Es mochte bald wieder eine halbe Stunde vergangen sein, so daß wir nun anderthalb Stunden lang gegangen waren, da erreichten wir den zweiten Bach, der von rechts her mündete. Wir bogen in diese Richtung ein, um seinem Lauf entgegenzugehen. Der Weg wurde hier gangbarer. Er verließ sogar zuweilen den Bach, um in gerader Richtung eine seiner Windungen abzuschneiden. Indem wir ihm aufwärts folgten, hatten wir diese Windungen bald zur rechten, bald zur linken Seite neben und unter uns liegen. Es galt, kleine Brücken zu übersteigen. Das Plätschern und Murmeln des Wassers erklang bald hüben bald drüben. Bei einer dieser Gelegenheiten hörten wir nicht nur das Wasser, sondern auch menschliche Stimmen. Es schienen weibliche zu sein. Wir blieben stehen und lauschten. Der Weg lag an dieser Stelle über dem Bache. Zwei Riesenbuchen standen in einiger Entfernung von ihm, und zwar genau an dem Rande, der sich zum Bach niedersenkte. Die Hälfte ihrer Wurzeln verlief nach unserer Seite in die Erde. Die andere Hälfte stieg auf der anderen Seite im Freien abwärts, bis sie unten den Boden erreichten und in demselben verschwanden. Diese freiliegenden Wurzeln bildeten eine Art von Nische, in der zwei Bänke standen, eine niedrige und eine höhere, aus Stein und Moos gebaut. Man sah, das war zum Beten.
Um zu sehen, wer da sprach, waren wir an die Buchenstämme getreten, knieten da leise nieder und schauten heimlich hinab. Auf der niedrigen Bank knieten zwei Kinder nebeneinander, ein Knabe und ein Mädchen. Sie hatten die Hände gefaltet auf den Schoß einer Frau gelegt, die vor ihnen auf der höheren saß. Alle drei beteten, und zwar mit vereinten Stimmen. Und was sie beteten, das war nicht aus dem Kuran, sondern aus der Bibel, nämlich das Vaterunser, natürlich in arabischer Sprache. Und zwar beteten sie in einer unendlich rührenden, gläubigen Weise. Die Augen der Kinder waren voll Liebe auf das Gesicht der Mutter gerichtet, und diese hatte den Blick zum Himmel erhoben, und ihre Augen erglänzten in heiligem Feuer. Man sah und hörte, daß hier nicht nur drei Lippenpaare, sondern auch drei Herzen beteten, die wirklich an die Macht und an die Güte dessen glaubten, an den sie sich wendeten. Als wir zu horchen begannen, waren sie mit den ersten Bitten schon vorüber. Nun fuhren sie fort:
»Unser tägliches Brot gib uns heute! Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern! Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel! Erlöse uns von Addahn Effendi und allen seinen Freunden! Erlöse den Vater unseres Vaters und den Vater unserer Mutter von den Ketten, in die sie unschuldig gefallen sind! Du kannst sie retten, wenn du willst! Amen!«
Als sie geendet hatten, drückte die Mutter die Köpfchen der Kinder an ihr Herz, gab jedem einen Kuß, und dann begann es von neuem: »Vater unser, der du bist im Himmel!« Ich war tief gerührt. Ich stand auf und trat von den Bäumen zurück. Daß wir hier lauschten, kam mir wie eine Entheiligung des Gebetes vor. Halef schien ganz dasselbe zu
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