Abdruecker (Splattergeschichten)
handelt, das nackt in die Wellen watet. Das Bild dieses Körpers verursacht einen abgerissenen Gedanken. Ich kann nicht sagen, was mich genau erfüllt, das Gefühl, etwas zu versäumen. Die Entfernung beträgt hundert Meter, die Sicht ist schlecht und der Sand würde jeden Sprint der Verfolgung verlangsamen. Da ich das Ziel also nicht mehr erreichen kann, atme ich durch, erhebe mich aus der geduckten Lauerhaltung und spaziere gemächlich hinunter auf die harte Schwemmplatte, wo die Kleider des Zieles liegen. Eine Brieftasche ist da mit Geldscheinen, die ich an mich nehme. Ausweise, Kreditkarten, ein Mobiltelefon. Im Schein des Handy-Displays lese ich seinen Namen. Gut, sagen wir besser, den Namen, den er in den letzten Jahren benutzt hat. Seine Größe. Sein Gewicht. Er ist 52 Jahre alt. Ich kenne jetzt seine Adresse. Draußen auf dem Meer glaubt man den Kopf des Zieles im Glitzern der Mondreflexionen zu sehen als winzige schwarze Scheibe. Ich hocke mich hin und ziehe mir die Schuhe aus, die bereits voller Sand sind. Ich streife die Socken ab und fühle mit den ertaubten, schweißigen Fußsohlen im Sand.
Ich habe eine Weile gewartet und bin durch die Kälte des Windes nun völlig durchfroren, als ich beschließe, zum Zeitvertreib eine Viertelstunde auf der Schwemmplatte der Wellen in eine Richtung zu gehen und dann wieder umzukehren und über den Nullpunkt hinaus zu wandern eine weitere Viertelstunde lang in die andere Richtung. Gutes Training, wenn es nicht etwas kühl wäre. Wir sind in Kalifornien, eigentlich erwartet man sich da laue Nächte, in denen man im Sand schlafen kann. Aber heute hat es geregnet, und dabei deutlich abgekühlt und es ist eher so wie in Riga an einem guten Sommertag. Aber die Aufmerksamkeit hält mich wach, und das Gefühl, eine Pflicht noch nicht erledigt zu haben. Ich kannte einmal einen Mann, der rieb sich mit Schweinefett ein und könne viele Stunden lang im Wasser bleiben in einem weit kälterem Meer als diesen. Also mal sehen, wie lange der durchhält. Wenn er hinausgeschwommen sein sollte im Versuch, so lange zu schwimmen, bis er untergeht, ist das auch okay. Wenn er aber zurückkommen sollte, wird er versuchen, seine Habseligkeiten anzupeilen. Die Frage ist nur, ob er vom Meer aus überhaupt das Ufer sehen kann, und wenn ja, wie weiß er, dass dieser besondere Strandabschnitt der ist, auf den er zusteuern muss? Einmal beinhaltet die Strecke, die ich mal in die eine Richtung durchmesse, eine Überprüfung des Bündels Kleider, dann wieder des Wagens. Zwischendurch schaue ich auf das Meer hinaus, durchkämme mit dem Blick einzelne Abschnitte der durchfurchten Oberfläche, stelle Berechnungen an, in welche Richtung das Ziel welche Strecke durchmessen haben könnte, ob es einen Bootskörper, eine Boje oder eine Sandbank gab, auf der es abgeblieben sein könnte. Er ist verdammt lange weg. Die Zeit verrinnt, und es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich ein Schwimmer auf dem eisigen, nachtdunklen Wasser solange halten kann mit der Wärme des Körperinneren. Meine Augen, eben noch geblendet von Scheinwerfern entgegenkommender Autos, haben sich nun längst an die Dunkelheit gewöhnt. Es ist Vollmond, deshalb ist es so dunkel. Aber die Sterne leuchten so hell, dass man wahrscheinlich den Kopf eines Schwimmers auf der spiegelnden Fläche erkannt hätte, obwohl der Wellengang recht stark ist, wenn auch schon schwächer als vorhin. Der Wind lässt nach, und das Meer beruhigt sich nach und nach. Was ist hier los? Will er Selbstmord begehen? Hat er bereits Selbstmord begangen, ist ertrunken? Was für eine Ironie wäre das, wenn ich denke, dass ich als Racheengel bestimmt wurde, um ihm seine Missetaten heimzuzahlen mit dem trockenen Knall eines Projektils in die Schläfe.
Wer ist er? Ich werde es nie mehr von Mann zu Mann erleben. Freilich kenne ich die Bilder, aber die sind nach einer oder mehrerer Operationen entstanden, die sein Gesicht zur Unkenntlichkeit verwandelt haben. Und sein Toupet tut das seine dazu. Wer erkennt einen Mann, der andere Haare hat, eine andere Nase, einen veränderten Mund und vielleicht ein alter Bekannter ist, den das Älterwerden verunstaltet hat? Eine stärkere Veränderung gibt es nicht. Ich frage mich, ob ich ihn kenne. Wahrscheinlich ist es nicht, aber möglich. Die Welt der Menschen, die ich töten muss, ist klein. Eigentlich trifft man in ihr viele Bekannte. Es gibt drei Stufen der Beziehung, die man zu unserem Herrn hat. Die erste ist die Liebe. Es ist
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