Abendfrieden
suchend nach ihren Angehörigen. Nein, sie gehörte nicht zu den Glücklichen, die in die Arme wartender und winkender Menschen eilen konnte. Dennoch war das heute ungewohnt. Wenn es auch keine aufschäumende Liebe für sie gab – sie hatte es stets genossen, dass einer da war und noch dazu ein Ehemann, der sie vom Flughafen abholte. Nein, sie war keine dieser armseligen Singlefrauen, die zu viel arbeiteten und zu wenig Nestwärme hatten. Obwohl – ihr eigenes Nest war ja vergiftet, noch immer, »sie« lebte und würde, wenn die Ärzte zu tüchtig waren, vielleicht sogar gerettet werden.
Norbert war jetzt im Krankenhaus. Bei seiner Mutter. Natürlich. Wenn es um Pflichten ging, war er berechenbar zuverlässig. Was er wirklich in dieser Situation empfand? Regine wusste es nicht. War er aufgewühlt und überwältigt von Gefühlen? Sie würde nicht darüber spekulieren, ihm einfach nur zur Seite stehen.
Die windige Luft draußen weckte sie auf. Auch als Großstadt war Hamburg noch immer frisch. Sie stieg in eine Taxe. »Zum S-Bahnhof Eidelstedt.« Die Fahrt war lang genug. Mit Meckerei oder Ablehnung wegen einer Kurzstrecke brauchte sie nicht zu rechnen. Der grauhaarige Fahrer in Lederjacke sagte nichts. Früher hatte sie mit Taxifahrern geflirtet. Aber das war vorbei.
Sie sandte keine Signale mehr aus, und so kam auch nichts zurück. Auch heute versank sie, kaum hatte sie sich in den Fond gedrückt, sofort in der Welt ihrer quälenden häuslichen Bilder.
In Eidelstedt nahm sie die S-Bahn nach Pinneberg. Von der Station war es zum Glück nicht weit. In einer plötzlichen Eingebung begann sie zu laufen, rollte mit dem Koffer ratternd die Bahnhofstraße hinunter. Vielleicht war ja schon etwas passiert … Das schmutziggelbe Mehrfamilien-Haus, in dem Tante Sophie wohnte, hatte den Krieg überlebt, auch nach dem Tod ihres Mannes war sie in der Drei-Zimmer-Wohnung geblieben. Regine zog ihren Koffer die Treppen zum zweiten Stock hoch und drückte heftig atmend auf die Klingel. Schlurfende Schritte, dann einen Augenblick Stille. Sicher hatte die alte Dame durch den Spion geschaut. Endlich ging die Tür auf. »Gott sei dank, du bist da.« Sophie Bäumers Gesicht bebte, als unterdrücke sie ein lange angestautes Weinen, dann siegte die Erleichterung. »Tante Sophie!« Regine nahm die dürre Gestalt andeutungsweise in die Arme. »Komm rein.« Die Tante ging zu einer Art Gäste-Arbeitszimmer voraus, das mit einer Bettcouch, einem Teak-Schreibtisch vor dem Fenster, einer Teak-Regalwand und einem Sperrholz-Schrank möbliert war. »Hier kannst du dich ausbreiten.«
»Und Norbert?«
»Der wollte lieber im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.« Tante Sophie ließ ein winziges Lächeln sehen. »Da kann er doch wenigstens fernsehen.«
»Ich pack eben aus.«
»Aber dann kommst du rüber, ja? Ich koch uns einen Tee.«
»Gut.« Regine ließ den Blick kurz durchs Zimmer streifen und fühlte im selben Moment, wie ihr das Unvertraute und Spießige der Umgebung auf die Seele schlug. Schnell stapelte sie ihre Sachen in den Kleiderschrank und eilte hinaus.
Auf dem braun gekachelten Couchtisch standen schon die weißgelben Teetassen mit Goldrand bereit. »Du bist sicher vollkommen kaputt von dem Flug.« Sophie Bäumer schenkte den Tee ein. »Ach, das geht. Dauert ja nicht so lang.« Regine Mewes schaute sich um. Dann schloss sie die Augen und sog das heiße Getränk ein. Beim Anblick dieser tristen, voll gestopften Wohnhöhle fiel ihr die eigene Wohnung ein. Vielleicht war die vollkommen ausgebrannt. Eine Katastrophe? Nein, ein Geschenk des Himmels. So konnte sie sich ganz neu einrichten, Amalie war hoffentlich weg, und dann … Bilder von frischen, farbigen Sitzgruppen, Vorhängen und Tapeten stiegen vor ihr auf, nichts würde mehr an ihr vorheriges Leben erinnern, und sollte doch noch eine Spur von »ihr« geblieben sein, dann würde sie sie auslöschen. Musste man vorher nicht alles desinfizieren? Die Wahrsagerin konnte ihr bestimmt helfen. Es gab da so Zeremonien, mit Sprüchen und Ölen … Regine bezwang ein aufkommendes Lächeln. Das Ganze würde »ausgeräuchert«. Im selben Moment wurde ihr das Makabre des Ausdrucks bewusst. Noch mehr Rauch war in dieser zerstörten Wohnung wohl kaum vonnöten. Vielleicht konnte man ein Raumspray nehmen. Pfefferminze oder Zitrone oder Rose …
»Du willst jetzt sicher wissen, wie es Amalie geht.«
Regine schrak auf. »Ja, natürlich. Wie geht es ihr?«
»Sie ist noch immer bewusstlos, im
Weitere Kostenlose Bücher