Abendfrieden
Taschentuch drückte sie ihre Tränen weg. Doch die Schuld, die sie empfand, ließ sich nicht so schnell wegdrücken.
Regine stand auf. »Ich mach uns jetzt Kaffee.«
Niemand antwortete.
17
Feiner Regen sprühte gegen die Bürofenster, kurz darauf brach Sonnenlicht durch die Wolken. Es war April geworden. Werner Danzik saß am Schreibtisch und studierte erneut Anja Holthusens Tagebuch, während Torsten Tügel unterwegs zu einer Vernehmung war. Danzik las und schüttelte den Kopf, immer wieder. Dies war ein Dokument aus den Abgründen des Lebens, das Tagebuch einer unendlichen Leidensgeschichte. Was so erschütterte: Hier schlug, bis auf wenige Ausnahmen, nicht brutale körperliche Gewalt zu, die man gerichtlich hätte ahnden können, hier prasselte ein Angriff aus feinsten, scharfen Stichen auf das Opfer nieder. Bis dieses geduckt am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Ein Wesen ohne Würde. Von Attacken ausgehöhlt, bis alle Selbstachtung vernichtet war. Oder hatte es doch eine Gegenwehr gegeben? Hatte Anja Holthusen den tödlichen Cocktail angerührt und ihrer Schwiegermutter verabreicht?
Danzik beugte sich wieder über das Tagebuch. »Isabel hat mir einen Rosamunde Pilcher-Roman geliehen. Eine schöne, romantische Welt. Es hat mich beruhigt, ich konnte gar nicht aufhören mit dem Lesen. Plötzlich kam L., riss mir das Buch aus der Hand: ›Was liest du da für Schund‹, schrie sie. ›Und der Haushalt bleibt liegen. Was bist du bloß für eine Schlampe.‹«
»Ich sollte die leeren Flaschen zum Container bringen. Seit Tagen fühle ich mich so müde, dass ich nicht aufstehen kann oder mich gleich wieder hinlegen muss. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage ich die Flaschen habe stehen lassen. Heute Morgen hat L. die Flaschen vor der Haustür die Treppe runtergeworfen. Sie sind kaputt gegangen, und dabei ist auch meine Seele kaputt gegangen, soweit das überhaupt noch möglich ist. Ich musste die Scherben einsammeln und das Ganze zum Glas-Container bringen.«
»Nichts Besonderes heute. Nur die alte Drohung, sie würden mich wegen meiner Depressionen entmündigen lassen, weil ich den Haushalt nicht bewältige. Dabei ist L. die Kranke: Dieser Perfektionismus ist doch nicht normal, sie hat eine Zwangsneurose.«
»Heute fand ich eine Waffe zwischen meinen Nachthemden. Ziemlich schwer. Auf jeden Fall zu schwer für einen Spielzeugrevolver. Ich muss irgendwo in den Wald fahren, um sie auszuprobieren. Ich weiß, was L. mir damit sagen will: Ich soll mich umbringen, das wäre das Beste für mich und auch für die anderen. Ich war erst sehr erschrocken, dann bekam ich eine Wut. Inzwischen erscheint mir der Gedanke verführerisch. Aus. Schluss. Der Vorhang fällt. Mein Leiden hat ein Ende.«
Danzik klappte das Buch zu. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Der Ansatzpunkt lag hier, in diesem zerrütteten Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter. Aber in welcher Art? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr drehte er sich im Kreise. Sollte er die Polizeipsychologin zu Rate ziehen? Andererseits war der Fall doch sehr klar, sogar ein psychologischer Laie musste die Zusammenhänge erkennen.
Konnte ein depressiver Mensch zu einem aggressiv Mordenden werden? Ein Fall aus dem Alten Land fiel ihm ein. Ein Gartenbau-Betrieb. Der Vater verwitwet, ein jähzorniger Alkoholiker, der schwache, gutmütige Sohn bei ihm angestellt. Der Sohn muss unterm Dach hausen, bis zum Umfallen arbeiten, das Haus putzen. Der Vater beschimpft ihn, weil er keine Frau hat, als ›schwule Sau‹. Der Vater bricht die Rosen ab, die der Sohn züchten will. Der Vater will den Sohn entlassen, der Sohn soll den Betrieb nicht übernehmen dürfen. Zehn Jahre Demütigungen, die Lebensgrundlage ist dahin. Da nimmt der Sohn ein Kissen und erstickt den Vater. Er nimmt ihm den Atem, weil er selbst nicht mehr atmen konnte.
Eine Tat, die nach einer wachsenden affektiven Aufladung geschah. War es hier nicht genauso? Danzik öffnete die Augen und sah auf seine Uhr. Gleich musste sie kommen. Anja Holthusen. Seine Taktik hatte er sich bereits zurechtgelegt.
Es klopfte. Er sah zur Tür und bemerkte, wie sich zögerlich Anja Holthusen hereinschob. Sie trug einen beigefarbenen weiten Mantel, ihren schweren, korpulenten Körper verbarg ein locker fallendes hellbraunes Leinenkleid. Ihre Hände krampften sich um eine braune Bügel-Tasche. Sie blinzelte ins Gegenlicht, hinüber zu dem Kommissar, dessen Gesicht nur wenig erkennbar im Schatten
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