Abendland
gewickelt, ihm die ersten Schritte beigebracht, einen Bienenstich an seinem Arm ausgesaugt, ihm das Schuhebinden, das Geschichtenerzählen, das Fahrradfahren gelehrt, mit ihm geübt, Klein-b und Klein-d auseinanderzuhalten, mit ihm zusammen auf die Rückgabe einer Mathearbeit gewartet und zuletzt mir seinen Liebeskummer angehört hätte.
Abends. – Kein Essen zu dritt, sondern eine Party. Was ich gar nicht mag. Deshalb hat Evelyn ja auch nicht mit mir gesprochen, sondern mit David. »Sie hat gesagt, es ist eine Party, sie könne nicht mehr absagen, aber verrate es ihm nicht, sonst kommt er nicht«, gestand er mir, als wir bereits in ihrer Wohnung waren. Ein (im Vergleich zu mir) junger Mann hatte uns die Tür geöffnet. Ich besaß zwar einen Schlüssel zu Evelyns Wohnung, aber weil ich mich so lange nicht bei ihr gemeldet hatte, wäre es mir unziemlich erschienen, einfach aufzusperren und einzutreten; obwohl ich wußte, daß sie genau das wünschte, sich jedenfalls bisher immer gewünscht hatte – weil es ihr ein Zeichen dafür war, daß wir beide zusammengehörten. Als ich nun den Mann vor mir sah – nicht wissend, daß hier eine Party stattfand –, der unrasiert war, etwas jünger als Evelyn, der schwarzes Haar hatte, das glänzte wie das ihre, und einen mediterranen Teint, war mein erster Gedanke, er ist ihr Bruder. Und weil ich ja wußte, daß Evelyn keine Geschwister hat, schoß es mir durch den Kopf, er könnte ihr Halbbruder sein, der sie gesucht und gefunden hatte, wie David seinen Vater gefunden hatte, und deshalb die Party. Er sprach Englisch, entschuldigte sich, er sei nur ein Gast und zufällig neben der Tür gestanden.
An die zwanzig Leute verteilten sich auf Evelyns Arbeitszimmer und Wohnzimmer. Die meisten kannte ich vom Sehen. Ich rechnete damit, daß David eine ähnliche Abneigung gegen solche Veranstaltungen hegte wie ich, zumal er ja um die Hälfte jünger war als die meisten hier. Aber so war es nicht, so schien es nicht, jedenfalls am Anfang nicht. Während ich noch im Flur stehenblieb und die Sache erst langsam angehen wollte, drückte er sich gleich zwischen den Leuten hindurch, als wäre er nicht zum erstenmal hier, Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Taschen seiner neuen dunkelblauen Hose. Es waren Arbeitskollegen und -kolleginnen von Evelyn und eine Studienfreundin mit ihrem Mann, der als Sportjournalist beim Fernsehen arbeitete und auch schon politische Diskussionen geleitet hatte. Auch das Ehepaar, das die Wohnung daneben bewohnte, war hier – er sehr groß und schüchtern, aber ein witziger Unterhalter im kleinen Kreis; sie, ebenfalls fast einen Kopf größer als ich, hat ein Talent, mich jederzeit mit einem abschätzigen Blick zu langanhaltendem Schweigen zu zwingen. Wenn die beiden in Urlaub fahren, kümmert sich Evelyn um ihre Pflanzen, das ist eine umfangreiche Aufgabe. Einmal waren wir gemeinsam drüben, und als wir alles erledigt hatten, legten wir uns auf den Teppich und schliefen miteinander; der Gedanke, daß wir es in einer fremden Wohnung taten, war besser gewesen als der Akt selbst.
Der Engländer zeigte ein ziemlich zähes Interesse an Evelyn; bei ihrer phlegmatischen Art, die Dinge, die ohnehin geschahen, mit sich geschehen zu lassen, schätzte ich, daß sie, wäre ich hier nicht aufgetaucht, am Ende der Nacht mit ihm, ganz gleich, ob er ihr Halbbruder oder ein Fremdling ist, im Bett gelandet wäre. Evelyn war in der Küche damit beschäftigt, in einem Topf, so groß wie für einen Jahrmarktsstand (den ich in dieser Küche noch nie gesehen hatte), Kartoffelgulasch umzurühren. David half ihr dabei, das heißt, er probierte mit einem Löffel die Sauce. Sie kicherten, als wären sie miteinander aufgewachsen und gerade ihrem Aufpasser entflohen. Sie trug ein winziges T-Shirt mit einer aufgenähten Rose aus glitzerndem Samt über der Brust, und sie hatte sich in ihre engsten Jeans gezwängt. Ich dachte, nicht für mich hat sie sich so angezogen, sondern für David, sie wollte ihm gefallen, und ich sah, daß sie ihm gefiel. Sie paßte in jeder Hinsicht besser zu ihm als zu mir.
Evelyn leckte den Kochlöffel ab, legte ihre Arme um meinen Hals und ihre Stirn gegen meine. »Mein Armer«, sagte sie.
Sie war raffiniert geschminkt wie immer, um ein Haarkleines zu kräftig nämlich. Das Schminken war bei ihr eine Sache von wenigen Minuten, alles andere als raffiniert, sie tat es nicht, weil sie meinte, ihr Gesicht habe das nötig, sondern weil es alle Frauen taten und
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