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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Mr. Thomson, dem die marode London Times gehörte, sein Kapital aus dem Unternehmen abzog; Bauernburschen aus der Umgebung seien angeheuert worden, die hätten mit ihren Mistgabeln die Bücher in Container geschaufelt … und so weiter …)
    Ich hatte in Liechtenstein mehr als das Doppelte von dem verdient, was meine Mitschüler bei ihren österreichischen Jobs verdienten. Aber ich mußte dafür zweimal täglich über die Grenze fahren, und das traute ich mich nun nicht mehr. Außerdem war ich nicht mehr auf das Geld angewiesen. Ich war seit der Matura ein reicher Mann, denn – wie später bei meinem Sohn – hatte mein Patenonkel Carl Candoris von meiner Geburt an monatlich einen bestimmten Betrag auf ein Konto überwiesen, und an dem Tag, als ich mit dem Maturazeugnis in der Hand nach Hause kam, wartete dort ein eingeschriebener Brief auf mich, der neben einer Glückwunschkarte, unterschrieben von Carl und Margarida, ein Sparbuch über 100.000 Schilling enthielt. Ich rechnete mir aus, daß ich mit diesem Geld drei Jahre lang würde leben können, sogar wenn ich neben meinem Studium nicht arbeitete, was ich aber nicht vorhatte. Ich lud meine Eltern ins Lingg zum Essen ein – Vorspeise: Weinbergschnecken mit Knoblauchbutter –, bot ihnen von meinen Smart Export an und fühlte mich unwohl, weil ich fürchtete, es könnte jemand zur Tür hereinkommen, der diesbezügliche Befugnisse besaß – womöglich sogar der Beamte vom Einwohnermeldeamt –, und mich wegen nicht angemeldeten Aufenthalts in Österreich anzeigen.
    Die vier Monate nach der Matura verbrachte ich in glücklich ängstlichem und römisch erhabenem Alleinsein. Ich las Ich, Claudius, Kaiser und Gott von Robert Ranke-Graves, lieh mir die Kaiserbiographien von Sueton und die Römische Geschichte von Appian von Alexandria in der Leihbücherei der Arbeiterkammer aus (den Appian mußte die Bibliothekarin, Frau Mag. Albrecht, ihrerseits von der Nationalbibliothek in Wien ausleihen, was mich, wie ich hoffte, denn sie gefiel mir, in ihren Augen ein paar Grade interessanter sein ließ) und vertiefte mich zuletzt in Theodor Mommsens Römische Geschichte , die ich mir von meinen Eltern zur Matura gewünscht hatte. Den Tag über saß ich im Auwald neben der Ill (so hieß der eine der beiden Flüsse, der andere war der Rhein) und las und phantasierte von Cäsar und Antonius, von Agrippina und Nero, von Messalina, der dritten Frau des Claudius, die sich in den Nächten als die Prostituierte Licisca in den heruntergekommenen Vierteln Roms herumtrieb, von Catilina und Spartacus und natürlich von Scipio, Hannibal, Hasdrubal, Hamilkar und Mago, deren Reinkarnation mir in Richard Nixon, Fidel Castro, Ho Chi Minh, Lenin und Martin Rottmeier dämmerte. Erst bei beginnender Dunkelheit trottete ich nach Hause, knieschwach und fast besinnungslos vor Hunger. Manchmal setzte sich meine Mutter zu mir in die Küche. Manchmal strich sie mir über die Stirn und sagte, sie sei stolz auf mich, weil ich die Matura mit lauter Einsern bestanden hätte. Mir war, als schrien ihre Augen um Hilfe. Aber ich konnte mich nicht auf meine Mutter konzentrieren, nicht auf einen einzigen Gedanken an sie, auch nicht, wenn ich frei von allem war und unter freiem Himmel, in der Nachtluft ausgestreckt, auf dem Rücken liegend, mir einbildete, ich sei gewappnet gegen jede Art von Bedrängnis, die von außen kam. Meinen Vater sah ich kaum, aber ich hörte ihn. Er war in der Scheune mit seinem Chor beschäftigt oder mit seinen Tonbändern, in den Ferien vor allem mit seinen Tonbändern. Er hatte sich ein gebrauchtes Aufnahmegerät Marke Uher und drei gebrauchte Studiomaschinen Marke Studer besorgt und letztere miteinander und einem Mischpult verkabelt, so konnte er die Stimmen, Töne und Geräusche, die er aufnahm, überspielen, kopieren und zueinander in ein gewünschtes Verhältnis bringen, bevor er die Chorsätze dazu komponierte. Meine Mutter sagte: »Geh hinüber zu ihm, frag ihn, was er macht. Es verletzt ihn, daß du dich nicht für seine Arbeit interessierst.« Ich setzte mich zu ihm, und was er mir an Musik zu hören gab, war so merkwürdig, daß es mich mit Sorge erfüllte.
    Am Ende des Sommers fuhr ich nach Frankfurt, immatrikulierte mich an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität und inskribierte in den Fachbereichen Geschichte und Latein (Folge von gut viertausend Seiten antikes Rom). Und trug mich in einer Liste ein, die in der Mensa auflag und mit deren Hilfe Musikanten gesucht wurden,

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