Abendland
etwas zu glatt am Schnürchen wiederholte er: »Verzeih mir meine gräßliche Laune gestern, und danke noch einmal, daß du dich von Frau Mungenast hast überreden lassen, das überaus kommode Hotel Central gegen deine Dachkammer hier zu tauschen.« Und in einem Ton, der mit Mühe nicht herablassend klingen wollte: »Nun aber erzähl mir von deinen tintendunklen Jahren!«
Also dann!
Am 30. Jänner 1982 brach Margarida zusammen. Nach der Beerdigung fuhr ich nach Zürich und stieg in ein Flugzeug nach New York. Ich wollte Abe aufsuchen und ihn bitten, mir bei einem Neustart in Amerika zu helfen. Aber Abe lebte nicht mehr. Ein halbes Jahr zuvor, so erfuhr ich, war auch er an einem Infarkt gestorben.
In dem Heft, das ich damals nach New York mitgenommen hatte, um mir Notizen zu Seyß-Inquart zu machen, fand ich die Nummer von Maybelle Houston, die mir Abe an einem unserer letzten Abende bei der Streetworker-Party vorgestellt hatte. Wir trafen uns, und für mich begann ein neues Leben.
An einem blauen Septembertag, umgeben vom Duft der ersten welken Blätter der Allee, rief ich aus einer Telefonzelle, die eben erst von Angestellten der Postgesellschaft montiert worden war, bei meinem Schutzengel in Innsbruck an und sagte, während draußen die Monteure applaudierten, ich wolle in Amerika ein neues Leben beginnen. Und als Carl fragte: » Wie willst du damit beginnen?«, sagte ich: »Indem ich dich bitte, mich eine Zeitlang nicht mehr anzurufen.«
Zehntes Kapitel
1
Maybelle stammte aus Montgomery, Alabama, sie war das zweitjüngste von acht Kindern. »Ich bin von einem Freund des großen Dr. Martin Luther King entdeckt worden«, sagte sie und verdrehte dabei die Augen, als wäre sie der Star, der mir, dem x-ten Reporter, erzählte, was jeder im Land bereits wußte. »Er hieß Michael Jeremias Vincenc und hielt sich für eine Reinkarnation von Aaron, dem Bruder des Mose, und führte sich dementsprechend auf wie der Agent des Stellvertreters Gottes auf Erden.« Er habe ihre Eltern sowohl auf die schöne Singstimme als auch auf die Intelligenz der Tochter aufmerksam gemacht und ihnen angeboten zu helfen. Er wolle »alle Protektion aktivieren, über die ich verfüge« (Zitat M.J.V.), damit Maybelle auf eine bessere Schule als die Industrial School of Girls komme und später nicht auf die Booker T. Washington High School angewiesen sei, deren Zeugnisse für eine Karriere einmal genausoviel wert sein würden wie das Einwickelpapier der Pausenbrote. »Allerdings reichte alle Protektion, über die er verfügte, nicht aus, um ein schwarzes Mädchen auf eine weiße Schule zu schicken.« Als sich Mr. Vincenc einer größeren Aufgabe zuwandte, nämlich der Organisierung des berühmten Montgomery Bus Boykott, und sich neben Rosa Lee Parks logischerweise nicht auch noch um ein weiteres Schicksal kümmern konnte, gewährte er Maybelle immerhin freien Zutritt zu seiner privaten Bibliothek; was sie ausgiebig nutzte – bis er sie rausschmiß, weil sie, wie er behauptete, eine Biographie über Harriet Beecher Stowe geklaut habe. Maybelle: »Habe ich aber nicht. Ich habe das Buch mit nach Hause genommen, weil ich mich in einem fremden Zimmer nicht so laut zu ärgern getraute, wie ich es wollte. Ich hätte es selbstverständlich zurückgegeben.« Mit Zwanzig heiratete sie Lawrence Houston (spricht sich aus wie der Stadtteil von New York –»Hausten« – und nicht wie die Stadt in Texas – »Justen«), der in der Dexter Avenue, gleich gegenüber der Baptist Church wohnte, in der Dr. King predigte. Lawrence war fast auf den Tag genau gleich alt wie Maybelle; er war der Sohn eines radikalen Funktionärs der Brotherhood of Sleeping Car Porters – so nannte sich eine schwarze Teilorganisation der Eisenbahnergewerkschaft; und der wollte, daß sein Sohn etwas Ähnliches werde wie er, denn er hatte gar nichts für Basketball übrig und noch weniger für die Idee seines Sohnes, dieses Spiel zu seinem Beruf zu machen – mit dem Traumziel, eines Tages in das Team der Boston Celtics oder der Philadelphia Warriors oder der New York Knicks oder der Syracuse Nationals aufgenommen zu werden. Lawrence drängte Maybelle, mit ihm in den Norden zu ziehen; erst suchten sie ihr Glück in Washington, später in Baltimore und in Philadelphia, ehe sie sich in New York niederließen, wo Lawrence – traurigerweise durch Intervention seines Vaters – eine Stelle bei der Long Island Rail Road in Queens bekam. Maybelle brachte eine Tochter zur Welt, Becky.
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