Abendland
Kinderaufpasser bei einer österreichischen Diplomatenfamilie.
Das wurde daraus: In der Stunde von neun bis zehn legten wir uns in dem winzigen Gästezimmer ins Bett, niemand würde es je erfahren. Von ihrem Körper strömte soviel Wonne und Trost zu mir herüber, und das sagte ich ihr auch, und sie sagte, ihr ergehe es nicht anders. Sie erzählte mir von ihrem Freund, der Schriftsteller werden wolle (ich sagte ihr nicht, daß ich bereits fast einer war) und um den sie sich ebenfalls große Sorgen mache, weil er weich und lebensfremd sei, und sie sagte, wie aufregend sie es finde, am Abend mit ihm zu schlafen, wo sie doch am Morgen mit mir geschlafen habe. Punkt zehn waren Dorothea und ich wieder vollständig angezogen und gekämmt und hatten unsere erhitzten Gesichter mit Wasser gekühlt.
Wir setzten uns eine Frist. Wenn Dr. Goldnagl von seiner Reise zurückkehre, wollten wir unsere Freude beenden. Unser letzter Morgen hatte gar nichts Feierliches an sich, er verlief nicht anders als die vorangegangenen, etwas kürzer sogar. Wir wußten, wenn wir uns an unsere Abmachung hielten, könnte es nur ein Zufall zustande bringen, daß wir uns wiedersähen. Aber als ich die Madison Avenue entlang zum Central Park schlenderte, um dort auf einer Bank allein in der Sonne zu frühstücken, tat es mir doch leid, daß ich Dorothea nicht mehr sehen würde.
Der Zufall hatte es in diesen Tagen auf mich abgesehen. Ich saß eine Stunde im Central Park, hatte mir zweimal bei einem der bunten Wagen heißen Kakao geholt, dazu eine Brezel, und schrieb »erste Sätze« in mein Heft. Ich achtete nur auf meine Gedanken, und so schreckte ich zusammen, als mich eine Frau ansprach, die dicht vor mir stand. Sie schlug die Hände zusammen, stieß einen Schrei aus.
»Das gibt’s doch nicht!« rief sie. »Ich glaub’s einfach nicht!«
Sie war mit mir in einer Klasse gewesen, wir hatten zusammen maturiert. Eine sehr kräftige Person war sie geworden, sie beugte sich zu mir nieder und riß mich an sich und hob mich hoch und rief dazu immer wieder meinen Namen.
Sie hieß Maria, bei einer Klassenparty hatten wir uns einmal durch Pullover und Hemd gewühlt. Sie hatte Jus studiert und war die erste aus unserer Klasse gewesen, die sich Doktor nennen durfte. Sie arbeite beim Gericht in Feldkirch, erzählte sie mir, und besuche zusammen mit ein paar Kollegen über ein verlängertes Wochenende New York. Sie wohnte in einem kleinen Hotel direkt hinter dem Plaza, keine fünf Minuten vom Eingang des Central Park entfernt.
Ich habe an diesem Tag mit drei Frauen geschlafen! Es war, als wäre ich von ihnen erzählt worden, drei Akte hin zu einem Ende – von Dorothea in ihre Zeit hineinberechnet; von Maria aus der Hand des Zufalls übernommen; von Maybelle schließlich in Schutz und Verpflichtung zurückgeholt …
3
Inzwischen war mir auch klargeworden, was für ein Kaliber Mr. Alan Lomax war; für mich obendrein eine Gestalt, als wäre sie den Mythen meiner Kindheit entstiegen (nämlich den Geschichten, die mir Carl erzählt hatte, als ich bei ihm und Margarida in Innsbruck gewesen war – den Geschichten von den Bluessängern mit den wunderbaren Namen, aus deren Klang meine Einbildungskraft je hundert neue Geschichten wachsen ließ, jede hundertmal schöner als die Blüten auf den Rosenbüschen um Dornröschens Schloß, für das ich mich nie interessiert hatte). Und nun war ich selbst in den Lebenskreis jenes Mann getreten, der einige dieser Musikanten entdeckt und berühmt gemacht hatte – zum Beispiel Hudson »Huddie« Leadbetter alias Leadbelly, den größten Geschichtenerzähler des Gospel-Blues, den Mr. Lomax in einem Gefängnis, wo er wegen Mordes an einem Rivalen einsaß, hatte singen hören und für den er sich eingesetzt hatte, bis man ihn aus der Haft entließ; oder McKinley Morganfield aus Mississippi, den er auf einer Plantage getroffen hatte und der sich ihm anschloß und nach Chicago zog und sich Muddy Waters nannte und der Vater des Electric Blues wurde. Die Porträts von Leadbelly, Muddy Waters, Fred McDowell und den anderen hingen neben dem von Woody Guthrie und den Bildern von noch hundert anderen Folk-, Blues-, Country- und Cajunmusikern und -musikerinnen in den Räumen des Hunter College, in denen das ACE untergebracht war. Die Bilder kamen mir – sicher ungerechterweise – ein wenig wie Jagdtrophäen vor, und mir fiel ein, was mein Vater einmal gesagt hatte (als Spitze gegen Carl), daß, wer nichts könne, immerhin sammle (worin
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