Abendland
ihm Carl sicher zugestimmt hätte). Alan Lomax soll mit allen diesen Musikanten gejamt haben, versicherten mir Sarah Jane und Fabian. »Welches Instrument?« fragte ich. »Mundharmonika, zum Beispiel.« Das »zum Beispiel« schien mir verräterisch. Ich spürte Antipathien gegen Mr. Lomax in mir; und das, obwohl alles, was ich über ihn hörte, sympathisch klang. Es lag wohl daran, daß in seinem Reich das Bild eines Mannes an der Wand hing, der meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.
Alan Lomax war bereits in den frühen dreißiger Jahren zusammen mit seinem Vater und einem hundertfünfzig Kilo schweren Ampex-Aufnahmegerät durch Louisiana, Mississippi, Kentucky und Tennessee gefahren, um Lieder und Sänger aufzuspüren. Sie taten dies im Auftrag der Library of Congress in Washington. Feldforschung nannten sie es. Sie bauten ihr Gerät in Küchen auf, in Hinterzimmern von Kneipen, in Sprechzimmern von Gefängnissen, im Schatten von Bäumen, in Kirchen und in Schulen. Alan studierte später Anthropologie und anschließend leitete er die Musikabteilung der Library of Congress. In den frühen fünfziger Jahren tauchte sein Name auf den Listen der »Red Channels« auf, auf denen jene 151 Frauen und Männer registriert waren, die im Verdacht standen, kommunistisches Gedankengut ins Radio und ins Fernsehen zu tragen. Er verließ Amerika, reiste durch Irland und Schottland, später durch Spanien und Italien. In Europa entstand die Idee einer World Library of Folkmusic. Als der McCarthy-Spuk vorüber war, kehrte er nach New York zurück. Er frischte seine Kontakte auf, knüpfte neue, vergab den Verrätern, zumindest innerlich (empörten Herzens auch dem Sänger und Schauspieler Burl Ives), umarmte die Standhaften, die sich auf Kosten ihrer Karriere geweigert hatten, Freunde und Kollegen an das House Committee on Un-American Activities zu verraten – allen voran den vorbildlichen Pete Seeger (der von Burl Ives verraten worden war), der mit seinem Lied Where Have All the Flowers Gone die ultimative Antikriegshymne geschrieben hatte. (An einer der Wände im ACE war diesem Lied ein Sonderplatz eingeräumt, ein Arrangement, das mich an ein Altarbild erinnerte. Hier hingen unter anderem Bilder von prominenten Interpreten des Songs wie Marlene Dietrich, Nana Mouskouri, Peter, Paul & Mary und Joan Baez; weiters die Texte von verschiedenen Übersetzungen und zwei Autographen der Notenschrift mit Akkordangabe für Gitarre, beide in C-Dur, die eine mit a-Moll, die andere, die archaische, ohne a-Moll, erstere von einem gewissen Reverend Douglas F. Helgeson niedergeschrieben, die andere von Pete Seeger himself. Eine Zeitlang trug ich mich mit dem Gedanken, über diesen Song eine Dissertation zu schreiben; ich war mir sicher, ich würde unter der Postachtundsechziger Professorenschaft von Frankfurt oder Wien dafür einen Doktorvater gewinnen. Mr. Lomax hatte alles gesammelt, was mit diesem Song zu tun hatte: Pete Seegers Vorlage für den Text – ein ukrainisches Volkslied, das Michail Scholochow in seinem Roman Der Stille Don zitiert; die Vorlage für die Melodie – der Railroad-Song Drill Ye Tarriers Drill , ein Traditional, das aber, wie Mr. Lomax herausbekommen hat, identifizierbare Urheber besitzt, nämlich Charles Connolly und Thomas Casey, beide Irish railroad workers, die im Jahr 1888 gemeinsam dieses Lied geschrieben hatten; so erfuhr ich auch, daß der deutsche Text – Sag mir, wo die Blumen sind –, dem Marlene Dietrich in jener berühmten Aufnahme von 1962 ihre Stimme geliehen hatte, von Max Colpet stammte, der sich wiederum an dem Lied Sag mir, wo die Veilchen sind des deutschen Dichters Johann Georg Jacobi aus dem Jahr 1782 orientiert hatte. Für einen Nachmittag lang war ich erschüttert von dem Gedanken, was für ein großer Gefallen der guten Sache getan wäre, wenn das völkerverbindende Rhizom dieses einfachen Liedes offengelegt würde. Und das verlockendste daran: Mr. Lomax würde mir vielleicht ein Interview mit Pete Seeger verschaffen, und Pete Seeger kannte Bob Dylan, und vielleicht würde mir Pete Seeger ein Interview mit Bob Dylan verschaffen, damit ich ihn endlich fragen könnte, warum er dieses Lied nie gesungen habe … – Ich hörte mir an einer der Abhörboxen im College etwa zwanzig verschiedene Versionen an. Danach hatte ich eine Aversion gegen diesen Song – sie hält bis heute an – und verließ erleichtert das Gebäude in der 41. Straße und spazierte der Abendsonne entgegen
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