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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Wahrheit oder der Vorspiegelung derselben? Zwischen Menschen sind oft sehr sonderbare Sachen wahr, und wir setzen alles daran, dafür Worte zu finden und sie auch aussprechen zu dürfen. Zwischen Mensch und Tier aber genügt es, Namen zu nennen. Also sagte ich ihren Namen, sprach ich ihren Namen aus – in der Hoffnung, sie fände in ihrer Brust einen Bellton, der nur mir zugeordnet sein würde –, immer wieder ihren Namen – »Suka« – »Suka« – »Suka«; knetete in die beiden Silben alle emotionalen Motivlagen hinein, die mir einfielen – Freude, Trauer, Seufzen, Spott, Befehl, Zorn, Essen-gibt’s!, Spielen-wir!, Melancholie, Weinerlichkeit, Jammer und Verzweiflung, Braver-Hund!, Böser-Hund!, Gehen-wir-jagen!, Resignation, Enttäuschung – bitter oder wehmütig –, eine gute Idee, eine schmerzliche Erinnerung, Tatendrang, Optimismus, Scheinheiligkeit, Witz, Drohung, Ekel, Sachlichkeit, Überzeugung, moralische Betroffenheit, Niedertracht, Ahnung … Es ist erstaunlich, wie variantenreich Komposition plus Improvisation für die Vokale U und A sein können. Meinem Vater hätte das gefallen. Ich lag neben Suka auf der Veranda und verlor mich in diesem Spiel, wie ich mich sonst nur im Gitarrespielen verlieren konnte; und wider ihren Willen und wider die Treue gegenüber ihrem ehemaligen Herrn fand auch Suka daran Gefallen. Wenn ich – absichtlich – eine Weile nichts gesagt und – absichtlich – von ihr weggesehen hatte, hörte ich ihren Schweif auf die Bretter schlagen, und aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie sie ihren Kopf zu mir hinreckte und die Brust ein wenig hob. Nun begann ich mit dem S, zischte es erst leise, dann lauter werdend zwischen den Zähnen hervor – »Sssssss …« –, schlich unmerklich in das U über – »Sssssuuuu …« –, und als ich an der Klippe zum K, auch wegen Luftmangels, abbrach, bellte sie zum erstenmal.
    Am vierten Tag schließlich war sie auch in ihrem Herzen mein Hund. Da war sie es in meinem schon lange.
    Sie hatte tatsächlich etwas von einer Wölfin. Die spitze kurze Schnauze zum Beispiel. Die Stirn allerdings war nicht so flach wie bei ihrer wilden Schwester. Suka, fand ich, hatte eine Denkerstirn. Akkurat in der Mitte zwischen den Augen standen zwei Denkerfalten, an deren Außenwölbungen sich das Fell, an dieser Stelle sattbraun, aufspreizte und die weiße Haut hindurchschimmern ließ. Wenn sie am Boden lag, den Kopf auf ihren Pfoten, und zu mir emporblickte, bildete sich bisweilen eine dritte Falte, und die verlief horizontal, legte sich als ein Querbalken über die Denkerfalten, was sie nun nicht mehr wie eine Philosophin, sondern wie eine arme Sünderin aussehen ließ. Allerdings fand ich bald heraus, daß dieser Blick weder auf Reue noch auf Demut deutete, sondern eher auf eine Art Geistesabwesenheit, oder sollte ich besser sagen, auf eine Art Nicht-bei-mir-Sein, denn ihre Augen waren nicht auf mich gerichtet, wie ich gemeint hatte, sondern ihr Blick ging durch mich hindurch, eigentlich ein Aus-der-Welt-Sein, so als hinge sie Erinnerungen und Traumbildern nach, die tatsächlich bis in die Wolfszeit zurückreichten; in solchen Momenten reagierte sie nicht auf meine Stimme, erhob sich nicht, wenn ich von meinem Sessel aufstand – was sie sonst immer tat –, wandte nicht einmal den Kopf, wenn ich die Tür nach draußen öffnete – was sie sonst immer jubelnd als Auftakt zu einer Wanderung, als Auftakt zur wilden Jagd, interpretierte; auch wenn ich vielleicht doch nur die fünfzig Schritte den Hang hinunter zum Brunnen ging.
    Suka war eine längst nicht mehr nachvollziehbare Mischung, eine Bastardin in der x-ten Generation; als wäre alles, was je Hund gewesen war, in ihre Gene eingeerbt worden. Wenn sie neben mir stand, konnte ich gerade meine Hand auf ihren Kopf legen. Ihr Fell war zwei-, genaugenommen dreifarbig, nämlich über den Rücken schwarz, an Bauch und Brust weiß, am Kopf aber, ebenso an den Pfoten und gegen die Spitze des Schwanzes hin breiteten sich braune Inseln aus, leopardenfleckig, von café noir bis café au lait . Der langbehaarte Schwanz ringelte sich, wenn sie straff stand, unedel nach oben; dies lasse (habe ich, wenn ich mich recht erinnere, bei Jack London gelesen) auf besondere Intelligenz schließen. Sie hatte warme, gütige, teilhabende Augen, etwas glubschig vielleicht, was jemanden, der sie nicht kannte – auch mich anfänglich –, zu dem Irrtum verleiten konnte, sie sei drollig. Das war sie nicht. Dazu fletschte sie zu

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