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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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für gewöhnlich gegen Mittag auf. Wenn ich in meine Schuhe schlüpfte und die langen Bänder zuschnürte, führte sie einen Freudentanz auf – übrigens nur mittags reagierte sie so; wenn ich morgens die Schuhe anzog, blieb sie gleichgültig, sie begleitete mich nur selten hinunter zum Brunnen; abends war es ihr ein Zeichen, sich zu erheben und, ohne einen Laut von sich zu geben, mir voraus den Hang hinaufzugehen –; mittags aber bellte meine Suka, die mit ihrer Stimme so geizte, trat mit ihren zu groß geratenen Pfoten gegen meine Schuhe, versetzte mir, der ich mich über die Schuhe beugte, mit ihrem Schädel einen Kinnhaken, schnappte mit den Zähnen nach den Schnürsenkeln, sprang in die Luft, drehte sich dabei, was übrigens nicht elegant aussah, sondern so, als wäre sie ziemlich lieblos geworfen worden. Suka war eine begeisterte Geherin; manchmal waren wir sechs Stunden unterwegs, und weil ich doch recht langsam dahinschritt, lief sie dauernd vor und zurück, absolvierte also alles in allem sicher die doppelte Wegstrecke; Anzeichen von Müdigkeit aber hatte ich nie an ihr bemerkt. Im Fall daß ich allerdings – und darauf will ich hinaus – unseren Spaziergang, weil ich Schmerzen hatte oder weil ich doch lieber noch eine Seite oder zwei schreiben wollte, auf nur eine halbe Stunde reduzierte, dann erschien sie mir, wenn wir wieder zu Hause ankamen, erschöpft und tatsächlich hundemüde, sie ließ den Kopf hängen – und: gähnte. Gähnen konnte dieses Wesen! Sie stellte sich breitbeinig vor mich hin, streckte die Vorderpfoten weit von sich, reckte das Hinterteil in die Luft, ging vorne nieder und sperrte das Maul so weit auf, daß ich ihr über den rosagerippten Gaumen bis weit in den Rachen hineinschauen konnte. Sie fing an zu zittern, erst zitterte der Schwanz, dann zitterten die Hinterbeine, die Flanken, die Schulterblätter, am Ende die Vorderläufe, sie stellte ihre Pfoten auf, zeigte die Krallen, als würde der Überschuß dieser bebenden Kraft über sie in die Luft abgeleitet. Dabei gab sie einen singenden Laut von sich, ähnlich dem, den sie bei Vollmond gegen den Himmel schickte. Und den Rest des Tages war sie schlecht gelaunt; das heißt, sie mißachtete mich, gab sich ignorant gegenüber allem. Als wollte sie mich dafür bestrafen, daß ich sie um ihre geliebte Wanderung geprellt hatte. Mit der Zeit kam ich allerdings zu der Auffassung, daß meine Interpretation falsch war. Suka war weder müde, noch wollte sie mich mit ihrem Gähnen provozieren, noch war sie schlecht gelaunt. Das Gähnen aus Müdigkeit war ein anderes, ein völlig anderes; sie benötigte dafür keine besondere Körperhaltung, sie gähnte im Liegen oder im Sitzen oder im Stehen, wie wir es auch tun, und danach schlief sie meistens ein. Auch ihre schlechte Laune – natürlich hatte sie manchmal schlechte Laune – äußerte sich anders, nämlich aggressiv und bissig – nicht daß sie mich verletzt hätte, aber ein Loch in mein Hosenbein gebissen hat sie mir bei solcher Gelegenheit schon. Was die Gründe für ihre schlechte Laune waren, ist schwer zu sagen; manchmal war es ihre Reaktion auf meine schlechte Laune, manchmal kam es mir so vor, als wäre sie frustriert, weil sie bei der Jagd nach irgendeinem kleinen Tier erfolglos geblieben war, wobei galt: je kleiner das Tier, desto bitterer die Niederlage; oder aber es gab keinen ersichtlichen Grund für ihre Allüre, es ging ihr eben alles auf die Nerven – warum nicht manchmal auch einem Tier? Der Freudentanz vor unseren Spaziergängen aber, so sehr er mich rührte, ich glaubte, er diente doch in erster Linie dazu, Adrenalin in die Muskeln zu pumpen, also Energie aufzutanken für den langen Weg. Das Gähnen nach einem zu früh abgebrochenen Spaziergang war dagegen so etwas wie Energieabfuhr. Und ich vermutete, auch ihre plötzlichen stürmischen Liebesbezeugungen waren nichts weiter als Energieabfuhr und wurden weder von meinen Worten noch von deren Klang, noch von irgendwelchen anderen Äußerungen meinerseits ausgelöst. Dieser Gedanke ließ mich ziemlich jämmerlich zurück, das muß ich zugeben – als einen, der nicht geliebt, auf den bloß reagiert wird. Allerdings hielt sich diese mechanistisch-materialistische Einschätzung des Tierischen nicht sehr lange in mir. Ich gab sie bald wieder auf und war mir dabei durchaus bewußt, daß ich mich vom Intellektuellen zum Schamanen wandelte, daß ich mich vom Klaren weg zum Dumpfen hin bewegte, und zwar kriechend, verschämt

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