Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
sitze; ihr Sohn sei Techniker in Zürich, woran er genau arbeite, wisse sie nicht, sie sehe ihn selten, ein sensibler Mann, sie habe sich immer gewünscht, er werde ein Künstler, er habe eine sehr hübsche Frau, die mir sicher gefallen würde, und zwei Kinder, zu denen sie leider keine warme Beziehung habe aufbauen können, bisher nicht. Ich hatte mich vor Frau Mungenast geschämt, weil ich auf Carls schlechte Laune so kindisch reagiert hatte; in der Folge sogar doppelt geschämt, weil sie mich im Hotel Central aufgespürt und mich wie mein Kindermädchen in Carls Mercedes zurück nach Lans gebracht hatte. Nicht eine einzige meiner Stärken (1. ?, 2. ?, 3. ? …) hatte sie bisher kennengelernt, aber viele meiner Schwächen und Gebrechen. Das gab mir die seltsame Macht dessen, der nichts zu verlieren hat. Sie fühlte sich zu mir hingezogen, das spürte ich, und ich war mir sicher, wenn ich sie gefragt hätte, ob sie sich in dieser Nacht zu mir legen wolle, sie hätte nicht nein gesagt. Ich dachte auch, sie hat sich für mich schön gemacht; und ich hätte mich gern für sie schön gemacht. In meinem Zimmer hing ein Anzug, der schon seit zehn Jahren dort hing, ein schicker, kakaobrauner Dreiteiler, der mir wahrscheinlich immer noch paßte. Und wenn ich mich rasiert hätte. Und wenn ich mir die Haare frisch gewaschen hätte. Und wenn ich ein bißchen mehr Sonnenfarbe im Gesicht gehabt hätte. Es wäre freilich nichts daraus geworden; hätte ja gar nichts daraus werden können. Sie zupfte ein borstiges Haar in meiner Braue zurecht; ich sah, daß nun sie verlegen war, weil sie darauf wartete, daß ich den nächsten Schritt setzte. Wenn sie lachte und die Lippen wieder schloß, sah es aus, als nehme sie noch einen Schluck Luft; ihr Mund blieb ein wenig spitz und ließ eine kleine schwarze Öffnung. Ich hielt ihre Hand fest, wußte kein anderes Entgegenkommen, als mein melancholisches Lächeln aufzusetzen, das eines meiner besten ist, und preßte mein Auge gegen ihren Daumenballen. Und das war alles, aber es war schön gewesen. Und dann hörten wir Carl in seinem Bett schreien, und wir zuckten zusammen, als hätte uns derselbe Pfeil durchbohrt.
    »Er träumt nur«, sagte sie. »Haben Sie ihn nie schreien hören?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Was für Kraft er noch hat!« sagte sie.
    Am nächsten Morgen hatte ich mit der Geschichte meines tintendunklen Amerikas begonnen. Nach zwei Tagen war ich durch. Wie geplant. Wie von Carl geplant. Wie von ihm gestattet.
    Er sagte: »Kann jetzt ich wieder?«
    »Ja«, sagte ich, »jetzt kannst du wieder.«
    Da hatte er mich gebeten, die Videokassette, die über die Tage auf dem Kaminsims bereitgelegen hatte, in den Recorder zu schieben. Er habe, erzählte er, vor etlichen Jahren beim Archiv des Westdeutschen Rundfunks in Köln nachgefragt, ob die Fernsehnachrichten vom 15. Juni 1960 mit den Beiträgen über die Studentenunruhen in Tokio aufgehoben worden seien.
    Zu seiner Überraschung habe er nach drei Wochen das Band zugesandt bekommen.
    »Über Makoto«, sagte er, »habe ich nicht einmal mit Margarida gesprochen. Er sollte mein gutes Werk sein, das um so schwerer wiegen würde, weil es ein stilles Werk war. Nachdem mir Sergeant Cousins im Sommer 1960 aus Los Angeles geschrieben hatte, daß sich Makoto auf diese Weise das Leben genommen habe, hatte ich mir alle österreichischen, deutschen und amerikanischen Zeitungen unten in der Uni-Bibliothek durchgesehen, aber auf den Bildern habe ich ihn nicht erkannt. Auf dem Band erkenne ich ihn. Nein, ich weiß wirklich nicht, warum er das getan hat. Und dann auf diese Weise!«
2
    »Schon während unseres ersten Gesprächs«, setzte Carl seine Erzählung fort, »faßte ich den Entschluß, mich um ihn zu kümmern. Eine Wiedergutmachung zu versuchen. Glaub’ nicht, daß irgendein Pathos dabei war oder womöglich so etwas wie religiöse Erhebung, ethischer Qualm! Ich kann’s, also tu’ ich’s. Mehr war es nicht. Queo, ergo facio. Die bewährte Fortsetzung des cogito, ergo sum ins technische Zeitalter. Daß ich bei dieser Gelegenheit der Menschheit ein Genie erhalte – natürlich kam mir dieser Gedanke, als mir allmählich klar wurde, was für einen brillanten Geist dieser junge Mann besaß. Wer das Große nicht in Gott findet, findet es nirgends. Er muß es entweder leugnen oder schaffen. Was aber, wenn er es weder leugnen will noch schaffen kann? Die Zerstörung hatte ich vor Augen. Die Ab-Schaffung der Welt sozusagen. Und daran hatte ich

Weitere Kostenlose Bücher