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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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meinen Anteil gehabt. Ich war beim DMAD gelandet, beim Department of Measuring and Analysis of Destruction. Zunächst war meine Arbeit ja rein theoretischer Natur gewesen. Was geschieht, wenn? Ich hatte nach dem Ernstfall nicht die Leiden der Hölle, sondern ihre exakten Maße aufzuzeichnen. Zum Beispiel in welchem Umkreis die Dachziegel der Häuser geschmolzen sein würden, ab welchem Radius nur die Oberfläche und bis zu welcher Tiefe, woraus sich die Temperaturen berechnen ließen. Ich hatte ein mönchisches Büro auf der Mesa von Los Alamos besessen. Die Mesa, das war ein steiniges Plateau zweitausend Meter über dem Meer; ein Altar in Wahrheit, ein Altar, auf dem die Genies meiner Generation in bis dahin nicht beobachteter Einigkeit opferten und geopfert wurden – darunter ein mysteriös überdurchschnittlicher Prozentsatz an Göttingern. Ich habe viel später irgendwann meine Aufzeichnungen verglichen mit dem, was mir Valerie erzählt hat: An jenem Abend des 10. September 1944, als meine Mutter von einem Bombensplitter getroffen wurde und starb – in Los Alamos war es später Vormittag –, da saß ich zusammen mit Oppenheimer und zwei Dutzend Physikern und Kollegen und General Groves, auch Luis Alvarez war dabei und Louis Slotin, wenn ich mich recht erinnere. Wir hielten Spekulierstunde, jeder phantasierte sich frei ein Szenario zusammen, und einer, ich weiß nicht mehr wer, hielt es sogar für möglich, daß die Kettenreaktion auf die Atmosphäre übergreife, also weiß Gott die totale Zerstörung herbeiführen könnte. Das hat natürlich niemand ernstgenommen. Homerisches Gelächter. Während dieser Stunden starb meine Mutter. Dahin also reichte meine Schaffenskraft, mein Schöpfertum. Keine rosigen Aussichten für einen, der einzig an das zu glauben vermag, was Menschen hervorbringen. Therefore I’ll give no more; but I’ll undo / The world by dying, because love dies too. John Donne war Oppenheimers Lieblingspoet; der Prophet sozusagen, der die Apotheose des obersten Thermonuklearikers ankündigte. Wenn es Oppie auch noch gelungen wäre, seinen Zigarettenkonsum von achtzig auf, sagen wir, dreißig zu reduzieren, wir alle hätten in ihm ohne großes Erkenntnisproblem die Reinkarnation Christi gesehen. ›Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen.‹ Jesus Christ, der sich auf Wunsch von General Groves Bart und Haare hatte scheren lassen. So war denn auch die erste Bombe, die in der Wüste von New Mexico gezündet wurde, Oppies Wunsch entsprechend, Trinity genannt worden. Er erkannte nicht nur Jesus Christus in sich selbst, sondern offenbar noch dazu Gottvater und den Heiligen Geist. Los Alamos war sein Golgatha, die Bombe war sein Kreuz. Ich erinnere mich, daß ein betrunkener Chemiker bei der Feier im Anschluß an den geglückten Versuch in der Alamogordo-Reservation ihm genau das an den Kopf warf. Nun hat Oppie, wie sie ihn alle immer noch nannten und – wow! – auch ganz offiziell nennen durften, seinen berühmten Geisterblick aufgesetzt und nach einer Weile, als es endlich still geworden war um ihn herum, gesagt: ›Wir haben die Reise des toten Mannes hinter uns und sind wieder auferstanden.‹ Das Testgelände hieß jornada del muerto . Mr. Oppenheimer hatte einen Witz gemacht, wie schön, aber war es denn auch ein Witz gewesen? – Und nun bat ich diesen japanischen Jungen, in dem brütendheißen Flugzeugbauch Platz zu nehmen auf einer der öligen Werkzeugkisten, und hielt ihm meine Zigarettenschachtel hin. Ich muß sagen – und, bitte, ich war schließlich ein Fachmann –, seine Stadt war sauber zusammengehauen worden. Was Tokio betraf, standen die Konventionellen den Atomaren in nichts nach. Die Destruktion Tokios war nicht auf dem Altar von Los Alamos beschlossen und geplant worden, aber sie war einwandfrei. Die USAAF hatte fast 10.000 Tonnen Napalm auf die Wohnviertel der Stadt geworfen, die Feuerstürme – von meinen britischen Kollegen vom Bomber Command anhand der deutschen Feuerstürme bis ins kleinste studiert und ausgewertet – hatten ihr Werk getan, und übriggeblieben war: nichts. Als ich nach Japan kam, hieß es, die Baustelle dürfe bis auf weiteres nicht betreten werden. Gemeint waren Hiroshima und Nagasaki. Wegen Verstrahlung. Ein Pilot Officer teilte es mir mit. Zwei Kollegen von mir – Mitglieder der Army, versteht sich – hätten die Städte bereits überflogen und fotografiert. Vorläufig genüge das. Japanische Wissenschaftler seien dort gewesen, die hätten

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