Abendland
Englisch, über das sie verfügte, holte sie so viel Witz heraus, daß in den Pausen unser Tisch von GIs umlagert war. Die wollten nichts von ihr, die wollten ihr nur zuhören. Was ich damals nicht wußte: Sie trieb lukrativen Handel mit den Soldaten, vor allem mit den Amerikanern, und zwar einen riskanten Handel: Nazidevotionalien – Mein Kampf , Orden, Mutterkreuze, Hitlerbilder, antisemitische Karikaturen und Hetzschriften, besonders pikante Ausgaben des Stürmer und so weiter. Was vor der Niederlage Macht, Überzeugung, Religion gewesen war, war für die Sieger Mitbringsel, Spiel, Unterhaltung. Sie hat auch deinen Vater kennengelernt. Sie hat ihn spielen hören. Im Keller der Loos-Bar, wo der Art-Club sein Lokal hatte, im sogenannten Strohkoffer. Er hat sich nach seinem Auftritt zu uns gesetzt und ab und zu einen Satz herausgelassen. Sie hätte gern mit ihm getanzt, aber das wollte er nicht. Musikanten tanzen nicht. – Valeries Geschichte ist unerfreulich und bedrückend. Wenn ich nicht fürchten müßte, daß sie sich zu Tode erschreckt, würde ich sie anrufen. Aber ich kenne ja nicht einmal eine Nummer. Gleich nach ihrer Geburt ist ihr Vater ohne Adieu auf und davon für immer. Von nun an lebte meine Mutter sehr zurückgezogen. Meinen Großvater und meine Großmutter besuchte sie nur zu den hohen Feiertagen und zu den Geburtstagen, und Männer hat sie angeblich auch keine mehr gehabt. Tochtererwürgen lautete von nun an die Überschrift. Arme Valerie. Oder auch nicht arme Valerie. Sie hat ja gelernt, sich zu wehren. Das Ergebnis ist vielleicht etwas zu kratzbürstig ausgefallen, was aber auch wieder sein Gutes hatte. Ohne sie wären die ersten Monate nach Kriegsende für die beiden Alten am Rudolfsplatz allzu bitter gewesen.
Gegen Ende des Krieges wurde meine Mutter als Straßenbahnschaffnerin in der Leopoldstadt dienstverpflichtet. Die Wohnung war ihr gekündigt worden. Der Besitzer vermietete sie an einen Parteimann. Den Großteil ihres Mobiliars hat er kassiert, der Gauner. Valerie, damals gerade zwanzig, war ebenfalls dienstverpflichtet, und zwar als Funkhelferin, und das ausgerechnet im Gaubefehlsstand am Gallitzinberg in Ottakring, wohin sich am Ende Baldur von Schirach verkriechen wollte, bevor er es sich anders überlegt hat und mit seinem Schwimmwagen davon ist. Beide, Valerie und meine Mutter, waren in Barackenlagern untergebracht, Valerie in Ottakring, meine Mutter in Wieden. Für Valerie war das weiter kein Problem. Für meine Mutter war es das Letzte. Sie mußte in einem Raum mit acht Stockbetten schlafen! Sie, die sich im Sommer Wachs in die Ohren stopfte, weil sie die Amseln am Morgen nicht aushielt! Wasser in einer Waschschüssel! Sie hätte ja ins Haus am Rudolfsplatz zurückkehren können, zu meinem Großvater und meiner Großmutter, aber das kam für sie nicht in Frage.
Am 10. September 1944, als die Bomben fielen, war sie gerade nicht im Dienst. Sie war in Ottakring beim Brunnenmarkt unterwegs, wahrscheinlich wollte sie Valerie besuchen, da hörte sie den Alarm. Aber dort war kein Luftschutzkeller in der Nähe, darum lief sie zum Clemens-Hofbauer-Platz, wo unter dem Park ein Bunker eingerichtet war. Sie erreichte den Bunker nicht, weil sie von einem Splitter getroffen wurde.«
4
Meine Stimme auf dem Band: Ich entschuldige mich, weil ich zur Toilette muß. Während ich draußen bin, läuft die Aufnahme weiter. Es ist nichts zu hören. Auch das Feuer im Kamin nicht. Gar nichts. Kein betontes Aus- oder Einatmen. Keine Bewegung von Carls Händen. Schließlich wieder meine tapsigen Schritte und wie ich mich auf dem Kanapee zurechtlege.
Ich war in Carls Badezimmer gewesen. Er hatte es umbauen lassen – den Türstock verbreitert, eine Schiebetür eingesetzt, so daß er bequem mit dem Rollstuhl hineinfahren konnte. Unter der Dusche war ein Klappsitz an die Wand geschraubt. Neben der Toilette waren Griffe, die man hinaufklappen konnte, überzogen mit weißem gepolstertem Kunststoff. Griffe auch bei der Badewanne. Auf einem Regal lag ein Paket mit Einlagen – Tena Lady Normal. Gehörten die Frau Mungenast? Die wird doch nicht ihre Einlagen in seinem Badezimmer deponieren. Oder hat er mit dem gleichen Problem zu kämpfen wie ich? Und das seit seiner Operation vor zwanzig Jahren? Daß die Inkontinenz also nicht zurückgeht? Oder daß er erst wieder in seinem hohen Alter darunter zu leiden begann? Eine normale Altersinkontinenz, die mit der Prostataoperation von vor zwanzig Jahren gar nichts zu
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