Abendruh: Thriller (German Edition)
hergerichtet, hat das Dach gedeckt und die Fensterläden angebracht. Wenn es zu kalt wird, treffen wir uns da drin.«
»Wer baut denn ein Haus hier oben mitten im Wald?«
»Ist irgendwie komisch, nicht wahr? Wie diese dreizehn Felsbrocken. Warum gerade dreizehn ?« Arthur senkte die Stimme. »Vielleicht hat Mr. Magnus ja hier irgendwelche Rituale abgehalten.«
Claire blickte nach unten, wo Grasbüschel sich durch die Ritzen zwischen den Steinen geschoben hatten. Früher oder später würden Bäume ihren Teil dazu beitragen, dieses Fundament verschwinden zu lassen, den Granit anzuheben und zu sprengen. Schon jetzt hatten die Jahre ihre Spuren hinterlassen. Doch an diesem Sommermorgen, da Nebel ringsum den Horizont verhüllte, kam es ihr vor, als ob an diesem Ort die Zeit stillstünde, als ob alles immer schon so gewesen wäre.
»Ich glaube, das hier ist viel älter als das Schloss«, sagte sie. »Ich glaube, es ist schon sehr, sehr lange hier.«
Sie ging zum Rand der Terrasse und blickte durch eine Lücke zwischen den Bäumen ins Tal hinab. Da lag Abendruh mit seinen vielen Kaminen und Türmchen und dahinter die dunkle Fläche des Sees. Von hier, dachte sie, kann ich die ganze Welt sehen. Zwei Kanus glitten über den See, ihr Kielwasser zerschnitt die glatte Haut des Wassers. Sie sah Reiter, winzig wie Ameisen; der Weg, auf dem sie ritten, wie ein Kratzer in der Landschaft. Hier oben, wo sie stand und den Wind im Gesicht spürte, fühlte sie sich allsehend und allwissend. Wie die Königin des Universums.
Das Bellen eines Hundes verriet ihr, dass Julian im Anmarsch war. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn schon die Stufen zur Steinterrasse heraufsteigen, wie immer mit Bear im Schlepptau. »Ihr habt alle kommen können«, sagte er und sah Claire an. »Habt ihr den Eid geschworen?«
»Wir haben versprochen, nichts von diesem Ort zu erzählen, falls du das meinst«, erwiderte sie. »Ist ja nicht so, als ob ihr irgend so ein Geheimorden wärt. Wieso müssen wir uns eigentlich hier oben treffen?«
»Damit wir alle ganz offen aussprechen können, was wir denken. Niemand sonst kann uns hören. Und was hier gesagt wird, bleibt auch unter uns.« Julians Blick wanderte über den Kreis von Schülern, sieben an der Zahl. Eine feine Truppe waren sie, dachte Claire. Bruno, die muntere kleine Bergziege. Arthur, der alles fünf Mal beklopfte, ehe er es benutzte. Lester, dessen Albträume manchmal in Schreie mündeten, die den ganzen Schlafsaal aufweckten. Claire war das einzige Mädchen in der Gruppe, und selbst unter diesen Sonderlingen hatte sie das Gefühl, aus dem Rahmen zu fallen.
»Etwas Merkwürdiges geht hier vor«, begann Julian. »Sie sagen uns nicht die Wahrheit über Dr. Welliver.«
»Wie meinst du das – die Wahrheit?«, fragte Teddy.
»Ich bin nicht überzeugt, dass sie sich das Leben genommen hat.«
»Ich habe gesehen, wie sie es getan hat«, sagte Claire.
»Das ist vielleicht nicht das, was wirklich passiert ist.«
Claire brauste auf. »Nennst du mich etwa eine Lügnerin?«
»Ich habe gesehen, wie Maura Dr. Wellivers Zuckerdose eingetütet und ins kriminaltechnische Labor geschickt hat. Und an dem Abend, als sie von der Obduktion zurückkam, bei der sie zugesehen hat, da hatte sie ein langes Gespräch mit einigen der Lehrer. Sie machen sich Sorgen, Claire. Ich glaube sogar, dass sie Angst haben.«
»Was hat das mit uns dreien zu tun?«, wollte Will wissen. »Wieso wolltest du uns dabeihaben?«
»Weil ihr drei«, sagte Julian, indem er sich zu Will umdrehte, »irgendwie im Mittelpunkt dieser ganzen Sache steht. Ich habe gehört, wie Maura mit Detective Rizzoli telefoniert hat, und dabei sind eure Namen gefallen. Ward. Clock. Yablonski.« Sein Blick ging von Will zu Teddy und schließlich zu Claire. »Was habt ihr drei gemeinsam?«
Claire sah ihre zwei Gefährten an und zuckte mit den Achseln. »Dass wir nicht ganz normal sind?«
Bruno ließ sein nerviges Kichern hören. »Also, die Antwort lag ja wirklich nahe.«
»Und dann sind da noch ihre Akten«, sagte Arthur.
»Was ist mit unseren Akten?«, fragte Claire.
»An dem Tag, als Dr. Welliver starb, hatte ich um eins einen Termin bei ihr. Als ich in ihr Büro kam, sah ich, dass sie drei Akten offen auf ihrem Schreibtisch liegen hatte, als ob sie gerade darin gelesen hätte. Deine Akte, Claire. Und die von Will und Teddy.«
Julian sagte: »An diesem Abend, nachdem sie sich das Leben genommen hatte, lagen diese drei Akten immer noch auf ihrem
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