Abendruh: Thriller (German Edition)
irgendetwas hat Ihren Instinkt geweckt. Irgendetwas in Ihrem Unterbewusstsein hat Details registriert, über die Sie sich selbst noch gar nicht im Klaren sind. Es sagt Ihnen, dass da irgendetwas nicht stimmt.« Er beugte sich weiter vor und sah ihr in die Augen. »Habe ich recht?«
Sie dachte an die leere Zuckerdose. Und an das verwirrende Telefongespräch zwischen Jane und Anna. Sie betrachtete die Aktenmappe, die Sansone ihr zugeschoben hatte, und schlug sie auf.
Die erste Seite zeigte ein Foto von Anna, aufgenommen, bevor ihr Haar sich silbergrau verfärbt hatte. Es war vor sechzehn Jahren entstanden, als man sie dem Club als Mitglied vorgeschlagen hatte. Wie immer trug sie ein dezentes Kleid mit langen Ärmeln und hohem Kragen, eine modische Präferenz, die sie exzentrisch erscheinen ließ, von der Maura aber inzwischen wusste, dass sie nur die Narben der Folter verdecken sollte. Nichts an Annas Lächeln oder an ihren Augen verriet etwas über die Qualen der Vergangenheit oder eine Neigung zu Selbstmordgedanken.
Maura blätterte weiter zu einer nüchternen Zusammenstellung biografischer Daten. Geboren in Berlin als Tochter eines Offiziers der US Army und seiner Gattin. Studienabschluss in Psychologie an der George Washington University in D.C. , Heirat mit Frank Welliver. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie für eine internationale Personalagentur für Führungskräfte mit Büros in Mexiko, Chile und Argentinien gearbeitet.
Maura blätterte weiter und sah Zeitungsartikel über die Entführung des Ehepaars und den darauffolgenden Mord an Frank in Argentinien. Aus einem zweiten Artikel ging hervor, dass die Mörder nie gefasst worden waren.
»Anna hat das Versagen der Justiz am eigenen Leib erlebt«, sagte Sansone. »Das machte sie zu einer von uns.«
»Eine Qualifikation, die sich wohl niemand wünschen würde.«
»Keiner von uns ist dem Club beigetreten, weil er oder sie es wollte, so wie man gerne einem exklusiven Country Club angehören möchte. Wir waren alle gezwungen beizutreten, weil wir persönliche Tragödien erlebt hatten, die uns mit Wut, Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung erfüllten. Wir verstehen, was gewöhnliche Menschen nicht verstehen.«
»Das Böse.«
»Das ist ein Wort dafür.« Er deutete auf die Akte. »Anna hat es sicherlich verstanden. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihre Stelle gekündigt und ist in die Staaten zurückgekehrt, um ihr Studium wieder aufzunehmen. Sie hat eine Zusatzausbildung als Therapeutin absolviert. Auf ihre eigene Weise hat sie versucht, das Böse zu bekämpfen, indem sie mit den Familien von Opfern arbeitete. Wir haben ihr die Gelegenheit eröffnet, ihre Fähigkeiten noch gewinnbringender einzusetzen, indem sie einer ganzen Generation junger Menschen Hilfe auf ihrem Lebensweg bot. Nicht nur als Beraterin, sondern auch, indem sie potenzielle Neuzugänge sichtete. Mit ihren Beziehungen zu Kinderschutzbehörden und Polizei konnte sie im ganzen Land nach geeigneten Kandidaten für unsere Schule Ausschau halten.«
»Indem sie Mordfälle sichtete? Und sich gezielt die traumatisierten Opfer vornahm?«
»Diese Diskussion haben wir doch schon einmal geführt, Maura. Ich weiß, dass Sie das kritisch sehen.«
»Weil es so aussieht, als ob Sie nur Kämpfer für Ihre Sache rekrutieren wollen.«
»Sehen Sie sich doch nur Julian an, wie er aufgeblüht ist. Wollen Sie behaupten, diese Schule sei nicht gut für ihn gewesen?«
Sie gab keine Antwort, denn sie konnte ihm nicht widersprechen. Abendruh war in der Tat genau das Richtige für Julian. In wenigen Monaten hatte er hier nicht nur an Muskelmasse, sondern auch an Selbstvertrauen zugelegt.
»Anna wusste, dass er hier gut zurechtkommen würde«, sagte Sansone. »Würde man ihn nur nach seinen schulischen Leistungen in Wyoming beurteilen, dann hätte niemand in ihm einen vielversprechenden Kandidaten gesehen. Er hat in der Hälfte der Fächer das Klassenziel nicht erreicht, er hat sich geprügelt und ist durch Kleinkriminalität aufgefallen. Aber Anna sah in seiner Akte, dass er ein Überlebenskünstler war. Sie wusste, dass er Sie dort in den Bergen am Leben gehalten hatte und dass sein einziges Motiv dabei das Mitgefühl war. Und so wurde ihr klar, dass er jemand war, den wir als Schüler haben wollten.«
»Es war also ihre Entscheidung?«
»Annas Zustimmung hat den Ausschlag gegeben. Sie hat die Hälfte der Schüler, die Sie hier sehen, persönlich ausgewählt.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Darunter auch
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