Abendruh: Thriller (German Edition)
Bogen zu schießen. Aber anstatt wieder hinunter ins Tal zu gehen, legte sie sich auf den Rücken, streckte sich aus wie eine Schlange, die sich auf einem Stein in der Sonne wärmt, und schloss die Augen. Da hörte sie ein Winseln und spürte, wie Bear sich an ihrer Jeans rieb. Sie streichelte ihm den Rücken, und die Berührung seines Fells beruhigte sie ein wenig. Wie kam es, dass man die Gesellschaft eines Hundes als so tröstlich empfand? Vielleicht lag es daran, dass man sich in seiner Gegenwart nie verstellen, nie ein falsches Lächeln aufsetzen musste.
»Braver Bear«, murmelte sie und schlug die Augen auf, um ihn anzusehen. »Was hast du mir denn gebracht?«
Der Hund hatte etwas im Maul, das er nicht freiwillig hergeben mochte. Erst als sie daran zog, ließ er es endlich fallen. Es war ein schwarzer Lederhandschuh. Wo hatte Bear den nur gefunden? Er strömte einen widerlichen Geruch aus, und die Oberfläche glitzerte vom Sabber des Hundes.
Claire verzog das Gesicht, als sie das Ding aufhob. Es kam ihr ungewöhnlich schwer vor. Sie warf einen Blick hinein und sah drinnen etwas Weißes schimmern. Da hielt sie den Handschuh mit der Öffnung nach unten und schüttelte ihn. Als sie sah, was herausfiel, schrie sie auf und fuhr zusammen, prallte zurück vor dem stinkenden Etwas, das dort auf dem Stein lag.
Es war eine Hand.
»Es sind immer die Hunde, die so etwas finden«, sagte Dr. Emma Owen.
Maura und ihre Kollegin vom Rechtsmedizinischen Institut Maine standen im Halbschatten des Waldes, wo Insekten um ihre Köpfe summten und die Luft schwer von Verwesungsgeruch war. Maura dachte an all die anderen Leichen,
die sie im Lauf der Jahre untersucht hatte, auch sie von Hunden aufgespürt, deren feinen Nasen solche gut abgelagerten Leckerbissen nie entgingen. Obwohl der Fundort einige Hundert Meter den Hang hinauf lag, hatte Bear die Witterung aufgenommen und die Spur bis zu diesem Dickicht verfolgt, wo dichtes Unterholz den Toten teilweise verdeckte. Es handelte sich um einen muskulösen, augenscheinlich durchtrainierten Mann, der eine Cargohose in Tarnfarben, eine dunkelgrüne Windjacke, ein T-Shirt und Wanderstiefel trug. Ein gezahntes Messer steckte noch in einem Riemen an seinem Unterschenkel, und auf einem nahen Felsblock war ein Gewehr mit Zielfernrohr positioniert. Der Mann lag auf der linken Seite, sodass die rechte Hälfte von Gesicht und Hals den Elementen ausgesetzt war. Die Aasfresser waren bereits am Werk gewesen, hatten gierig die Kopf- und Gesichtshaut weggerissen, den Nasenknorpel angeknabbert und sich in den rechten Augapfel gefressen, bis nur eine leere, sauber ausgeräumte Höhle übrig war. Hunde, dachte Maura – sie konnte es an den Bissspuren auf der verbliebenen Haut erkennen, den kleinen Löchern in den dünnen Knochen der Augenhöhle. Höchstwahrscheinlich Kojoten. Oder, in einer abgelegenen Gegend wie dieser, vielleicht auch Wölfe. Selbst in dem dichten Gewirr von Kletterpflanzen war die Todesursache unschwer auszumachen: ein Aluminiumpfeil mit dunkelgrünen Federn am Schaft, dessen Spitze sich tief in das linke Auge gebohrt hatte.
Unter anderen Umständen hätte Maura vielleicht angenommen, dass es sich um einen Jäger handelte, der das Pech gehabt hatte, durch die Unachtsamkeit eines anderen Jägers zu Tode zu kommen. Doch dieser Mann war verbotenerweise auf das Gelände von Abendruh vorgedrungen, und von dem Felsen aus, auf dem er sein Gewehr in Stellung gebracht hatte, konnte man das ganze Tal mit der Schule überblicken. Er hatte genau sehen können, wer dort ein und aus ging.
Maura war an üble Gerüche gewöhnt, doch selbst sie musste sich abwenden, als die Leiche auf eine Plastikplane gerollt wurde, wobei ein so widerlicher Gestank aufstieg, dass es ihr den Atem verschlug und sie instinktiv den Arm vor die Nase hielt. Dr. Owens Leute trugen volle Schutzkleidung und Masken, doch Maura, die nur als Beobachterin anwesend war, hatte sich mit Handschuhen und Schuhüberziehern begnügt – die Rechtsmedizinerin aus der Großstadt, die beweisen wollte, dass eine alte Häsin wie sie nicht so schnell vor einer verwesenden Leiche kapitulierte.
Dr. Owen beugte sich über den Mann. »Die Leichenstarre hat schon stark nachgelassen«, sagte sie, während sie die Beweglichkeit der Gliedmaßen testete.
»Letzte Nacht hatten wir zehn Grad«, bemerkte einer der Detectives der State Police. »Ziemlich mild.«
Die Rechtsmedizinerin zog das T-Shirt des Opfers hoch, um den Bauch zu untersuchen.
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