Abendruh: Thriller (German Edition)
dem Jungen reden. Ist er da drin?«
»Ja, mit Officer Vasquez.«
»Wir warten auch noch auf den Psychologen. Also, wenn Dr. Zucker aufkreuzt, lassen Sie ihn bitte rein.«
»In Ordnung, Ma’am.«
Jane merkte plötzlich, dass sie immer noch die Handschuhe und Überschuhe vom Tatort trug. Sie streifte sie ab, stopfte sie in die Tasche und läutete. Gleich darauf erschien eine attraktive weißhaarige Frau an der Tür.
»Mrs. Lyman?«, sagte Jane. »Ich bin Detective Rizzoli.«
Die Frau nickte und winkte sie herein. »Kommen Sie schnell. Ich will nicht, dass diese schrecklichen Fernsehkameras uns sehen. Es ist eine solche Verletzung der Privatsphäre.«
Jane trat ins Haus, und die Frau machte rasch die Tür hinter ihr zu.
»Man hat Sie mir schon angekündigt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Sie mit Teddy viel weiterkommen werden. Dieser nette Detective Moore war so geduldig mit ihm.«
»Wo ist Teddy?«
»Hinten im Wintergarten. Der arme Junge hat kaum ein Wort mit mir geredet. Heute Morgen stand er plötzlich bei mir vor der Tür – er hatte noch seinen Pyjama an. Ich habe ihn nur angesehen und sofort gewusst, dass irgendetwas Schreckliches passiert war.« Sie drehte sich um. »Hier entlang, bitte.«
Jane folgte Mrs. Lyman in die Eingangshalle und blickte zu einem Treppenhaus auf, das wie ein Spiegelbild der Ackerman-Villa wirkte. Und auch dieses Haus war mit ebenso erlesenen wie teuer aussehenden Kunstobjekten geschmückt.
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte Jane.
»Er sagte: ›Sie sind tot. Sie sind alle tot.‹ Und viel mehr habe ich nicht aus ihm herausbekommen können. Ich habe das Blut an seinen nackten Füßen gesehen und sofort die Polizei gerufen.« Sie blieb vor der Tür zum Wintergarten stehen. »Sie waren so gute Menschen, Cecilia und Bernard. Und Cecilia war so glücklich, weil sie endlich das hatte, was sie sich immer gewünscht hatte – ein Haus voller Kinder. Sie hatten schon alles für Teddys Adoption in die Wege geleitet. Jetzt steht er wieder alleine da.« Sie hielt inne. »Wissen Sie, ich hätte nichts dagegen, ihn zu behalten. Er kennt mich gut, und auch dieses Haus ist ihm vertraut. Cecilia hätte es sicher auch so gewollt.«
»Das ist ein sehr großzügiges Angebot, Mrs. Lyman. Aber das Jugendamt hat Pflegefamilien, die eigens für den Umgang mit traumatisierten Kindern geschult sind.«
»Oh. Es war ja nur so eine Idee. Weil ich ihn schon kenne.«
»Dann können Sie mir sicher mehr über ihn erzählen. Gibt es irgendetwas, was mir helfen könnte, zu Teddy durchzudringen? Was sind seine Hobbys?«
»Er ist ein sehr stiller Junge. Liebt seine Bücher über alles. Wenn ich nebenan zu Besuch war, saß Teddy immer in Bernards Bibliothek, die Nase in Büchern über römische Geschichte. Vielleicht könnten Sie das Eis brechen, indem Sie dieses Thema ansprechen.«
Römische Geschichte. Na klar, mein Spezialgebiet . »Was hat er sonst noch für Interessen?«
»Botanik. Er begeistert sich für die exotischen Pflanzen in meinem Wintergarten.«
»Was ist mit Sport? Könnte ich mich mit ihm über die Bruins unterhalten? Oder die Patriots?«
»O nein, für so etwas interessiert er sich nicht. Dazu ist er viel zu kultiviert.«
Na, dann bin ich wohl eine Neandertalerin.
Mrs. Lyman war schon im Begriff, die Tür zum Wintergarten zu öffnen, als Jane fragte: »Was ist denn mit seiner Herkunftsfamilie? Wie ist er überhaupt zu den Ackermans gekommen?«
Mrs. Lyman drehte sich zu Jane um. »Das wissen Sie nicht?«
»Man hat mir gesagt, er sei Vollwaise, ohne lebende Verwandte.«
»Deswegen ist es ja ein solcher Schock, gerade für Teddy. Cecilia hatte alles darangesetzt, ihm einen Neuanfang zu ermöglichen. Ihm eine Chance zu geben, wieder glücklich zu werden. Ich glaube, das ist jetzt ein für alle Mal vorbei. Jetzt, nachdem es wieder passiert ist.«
»Wieder?«
»Vor zwei Jahren lagen Teddy und seine Familie mit ihrer Segeljacht vor Saint Thomas vor Anker. Nachts, als alle schliefen, kam jemand an Bord. Teddy Eltern und seine Schwestern wurden ermordet. Er hat sie alle erschossen.«
In der Pause, die nun folgte, wurde Jane mit einem Mal bewusst, wie still es im Haus war. So still, dass sie ihre nächste Frage mit gedämpfter Stimme stellte. »Und Teddy? Wie hat er überlebt?«
»Cecilia hat mir erzählt, man habe ihn aus dem Wasser geborgen, wo er mit seiner Rettungsweste trieb. Und er konnte sich nicht erinnern, wie er in diese Lage geraten war.« Mrs. Lyman starrte die
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