Abendruh: Thriller (German Edition)
in der Halle stehen, als die Bahre mit quietschenden Reifen über das glänzende Parkett an ihr vorbeirollte, und sie konnte nicht verhindern, dass plötzlich das Bild ihrer eigenen Tochter vor ihr auftauchte – Regina, wie sie unter dem Leichentuch lag. Schaudernd wandte sie sich ab und sah Moore die Treppe herunterkommen.
»Hat der Junge mit dir geredet?«
»Genug, um mir klarzumachen, dass er nichts gesehen hat, was uns weiterhelfen wird.«
»Dann bist du mit ihm wesentlich weitergekommen als ich. Ich hatte so ein Gefühl, dass du zu ihm durchdringen könntest.«
»Ich bin ja nicht gerade der warme, mütterliche Typ.«
»Aber er hat mit dir geredet. Crowe möchte, dass du die Hauptkontaktperson für den Jungen bist.«
»Ich bin also jetzt die offizielle Kinderflüsterin.«
Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Crowe hat nun mal die Leitung.«
Sie sah hinauf zu den oberen Stockwerken, wo es jetzt auffallend still war. »Was ist hier los? Wo sind all die anderen?«
»Sie gehen einem Hinweis auf die Haushälterin nach. Maria Salazar – sie hat die Schlüssel und das Passwort für die Alarmanlage.«
»Damit rechnet man eigentlich bei einer Haushälterin.«
»Aber anscheinend hat sie auch einen Freund, der ziemlich viel Dreck am Stecken hat.«
»Wer ist er?«
»Ein Ausländer ohne Papiere namens Andres Zapata. Ist in Kolumbien vorbestraft. Einbruchdiebstahl und Drogenschmuggel.«
»Auch schon durch Gewaltdelikte aufgefallen?«
»Nicht, dass wir wüssten. Aber trotzdem.«
Janes Blick ging zu der antiken Uhr an der Wand, ein Stück, das kein anständiger Einbrecher zurückgelassen hätte. Und sie erinnerte sich an das, was sie zuvor gehört hatte – dass man sowohl Cecilias Handtasche als auch Bernards Brieftasche im Schlafzimmer gefunden hatte und dass die Schmuckschatulle nicht angerührt worden war.
»Wenn es ein Einbruch war«, sagte sie, »was hat er dann mitgenommen?«
»Bei einem Haus von dieser Größe, mit einer solchen Auswahl an Wertgegenständen …?« Moore schüttelte den Kopf. »Der einzige Mensch, der uns vielleicht sagen könnte, was fehlt, ist die Haushälterin.«
Und die war jetzt offenbar selbst verdächtig.
»Ich gehe rauf in Teddys Zimmer«, sagte sie und wandte sich zur Treppe.
Moore folgte ihr nicht. Als sie im zweiten Stock ankam, stellte sie fest, dass sie ganz allein war; auch das Team der Spurensicherung war schon aufgebrochen. Vorhin hatte sie nur kurz durch die offene Tür in den Raum gesehen. Jetzt trat sie ein und ließ langsam den Blick durch Teddys ordentlich aufgeräumtes Zimmer schweifen. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster lag ein Stapel Bücher, viele davon waren alt und offensichtlich eifrig benutzt. Sie überflog die Titel: Alte Kriegstechniken. Einführung in die Ethnobotanik. Handbuch der Kryptozoologie. Alexander in Ägypten. Nicht die Art von Lektüre, die sie bei einem Vierzehnjährigen erwartet hätte, doch Teddy Clock war anders als alle Jungen, denen sie je begegnet war. Sie konnte keinen Fernseher entdecken, aber neben dem Bücherstapel stand ein aufgeklappter Laptop. Sie drückte eine Taste, und auf dem Bildschirm erschien die letzte Website, die Teddy angesehen hatte. Es war eine Google-Suchanfrage, und in das Eingabefeld hatte er getippt: Wurde Alexander der Große ermordet?
Nach dem sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch mit dem akkurat ausgerichteten Bücherstapel zu urteilen, war der Junge ein kleiner Ordnungsfanatiker. Die Bleistifte in seiner Schublade waren alle gespitzt wie Speere vor der Schlacht, Heftklammern und Hefter lagen in je eigenen Fächern. Erst vierzehn und schon hoffnungslos zwanghaft. Hier, so hatte er ihr erzählt, hatte er am vergangenen Abend gegen Mitternacht gesessen, als er das gedämpfte Knallen gehört hatte und dann Kimmies Schreie, als sie die Treppe hinaufgerannt war. Sein Hang zur Ordnung hatte ihn noch das Buch, in dem er las – Alexander in Ägypten –, zuklappen lassen, trotz seiner panischen Angst. Er wusste, was dieses Knallen, diese Schreie bedeuteten.
Weil es schon einmal passiert ist. Genau die gleichen Geräusche habe ich damals auf dem Boot gehört. Ich wusste, es sind Schüsse.
Hier im zweiten Stock konnte er nicht einfach aus dem Fenster klettern; es gab keinen Fluchtweg.
Also hatte er das Licht ausgeschaltet. Er hatte die Schreie der Mädchen gehört und sich dort versteckt, wo sich jedes verängstigte Kind zuerst verkriechen würde: unter dem Bett.
Jane drehte sich um und betrachtete die
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