Abendruh: Thriller (German Edition)
Jane«, antwortete sie ebenso leise.
»Aber wer sind Sie?«
»Ich bin eine Freundin.«
»Nein, das sind Sie nicht. Ich kenne Sie ja gar nicht.«
Sie dachte über seine Worte nach, und sie musste zugeben, dass er recht hatte. Sie war nicht seine Freundin. Sie war eine Polizistin, die etwas von ihm wollte, und sobald sie es bekommen hatte, würde sie ihn einer Sozialarbeiterin übergeben.
»Du hast recht, Teddy«, gestand sie. »Ich bin nicht wirklich eine Freundin. Ich bin von der Kriminalpolizei. Aber ich will dir helfen, ehrlich.«
»Niemand kann mir helfen.«
»Ich kann es. Und ich werde es tun.«
»Dann werden Sie auch sterben.«
Diese Feststellung, so nüchtern ausgesprochen, jagte Jane einen eiskalten Schauer über den Rücken. Dann werden Sie auch sterben. Sie drehte sich zu dem Jungen um und sah ihn entgeistert an. Er erwiderte ihren Blick nicht, starrte nur düster vor sich hin, als ob er seine hoffnungslose Zukunft vor sich sähe. Seine Augen waren von einem so hellen Blau, dass es fast unnatürlich wirkte. Eine Strähne seines seidigen hellbraunen Haars fiel ihm in die blasse, ausgeprägte Stirn. Seine Füße waren nackt, und während er vor und zurück schaukelte, erhaschte sie einen Blick auf die Spuren von getrocknetem Blut unter den Zehen des rechten Fußes. Sie erinnerte sich an die Abdrücke, die vom Treppenabsatz wegführten, von der Leiche der achtjährigen Kimmie. Teddy hatte in ihr Blut treten müssen, um aus dem Haus zu entkommen.
»Wollen Sie mir wirklich helfen?«, fragte er.
»Ja. Ich verspreche es.«
»Ich kann nichts sehen. Ich habe sie verloren, und jetzt traue ich mich nicht, ins Haus zurückzugehen, um sie zu suchen.«
»Was zu suchen, Teddy?«
»Meine Brille. Ich glaube, sie ist in meinem Zimmer. Ich muss sie in meinem Zimmer liegen gelassen haben, aber ich kann mich nicht erinnern …«
»Ich gehe sie für dich suchen.«
»Deswegen kann ich Ihnen nicht sagen, wie er ausgesehen hat. Weil ich ihn nicht sehen konnte.«
Jane verharrte reglos, wagte nicht, ihn zu unterbrechen, aus Angst, dass jeder Kommentar, jede Bewegung ihn dazu bringen könnte, sich wie eine verschreckte Schildkröte wieder in seinen Panzer zurückzuziehen. Sie wartete, hörte aber nichts als das Plätschern des Brunnens.
»Von wem sprichst du?«, fragte sie schließlich.
Er sah sie an, und seine Augen leuchteten wie von einem blauen Feuer im Innern. »Von dem Mann, der sie umgebracht hat.« Seine Stimme versagte, es schnürte ihm die Kehle zu, und die Worte wurden zu einem hohen, gepressten Wimmern. »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber ich kann nicht. Ich kann nicht, ich kann nicht …«
Es war der Instinkt einer Mutter, der sie plötzlich die Arme ausbreiten ließ, und er sackte an ihrer Brust zusammen, barg sein Gesicht an ihrer Schulter. Sie hielt ihn, als sein Körper von so heftigen Schluchzern erschüttert wurde, dass sie glaubte, es müsse ihn zerreißen, dass allein ihre Kraft dieses zitternde Bündel von Haut und Knochen zusammenhalten konnte. Er war vielleicht nicht ihr Sohn, aber in diesem Augenblick, als er sich an sie klammerte, als seine Tränen ihre Bluse benetzten, fühlte sie sich ganz und gar wie seine Mutter, bereit, ihn gegen sämtliche Ungeheuer dieser Welt zu verteidigen.
»Er hört nie auf.« Er nuschelte die Worte so undeutlich in ihre Bluse, dass Jane sie beinahe überhört hätte. »Das nächste Mal wird er mich finden.«
»Nein, das wird er nicht.« Sie packte seine Schultern und schob ihn sanft von sich, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Die langen Wimpern warfen Schatten auf seine kreidebleichen Wangen. »Er wird dich nicht finden.«
»Er kommt wieder.« Teddy schlang die Arme um den Leib, wandte sich nach innen, an irgendeinen weit entfernten, sicheren Ort, wo niemand an ihn herankam. »Er kommt immer wieder.«
»Teddy, wir haben nur dann eine Chance, ihn zu fangen, ihn unschädlich zu machen, wenn du uns hilfst. Wenn du mir sagst, was letzte Nacht passiert ist.«
Sie sah, wie seine Brust sich weitete, und der Seufzer, der folgte, klang viel zu müde und resigniert für einen so jungen Menschen. »Ich war in meinem Zimmer«, flüsterte er. »Ich habe in einem von Bernards Büchern gelesen.«
»Und was ist dann passiert?«, half Jane nach.
Teddy heftete seinen Blick aus angstgeweiteten Augen auf sie. »Und dann ist es losgegangen.«
Als Jane ins Haus der Ackermans zurückkehrte, wurde gerade die letzte Leiche abtransportiert – eines der Kinder. Jane blieb
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