Abendruh: Thriller (German Edition)
fragte: »War er in letzter Zeit einmal hier?«
»Vor etwa einem Monat. Er nimmt immer an den Sitzungen des Verwaltungsrats von Abendruh teil.«
»Und wann ist die nächste?«
»Erst nächsten Monat.« Er zögerte einen Moment. »Du magst ihn wirklich. Nicht wahr?«
Ihr Schweigen ließ allzu tief blicken. Nach einer Weile sagte sie in nüchternem Ton: »Er hat sich sehr großzügig gezeigt.« Sie drehte sich zu Julian um. »Wir haben ihm beide viel zu verdanken.«
»Ist das wirklich alles, was du über ihn zu sagen hast?«
»Was soll denn da sonst noch sein?«
»Na ja, du hast mich nach Briana gefragt. Da dachte ich mir, ich frage dich mal nach Mr. Sansone.«
»Punkt für dich«, gab sie zu.
Aber die Frage hing in der Luft, und sie wusste keine Antwort darauf. Du magst ihn wirklich, nicht wahr?
Sie drehte sich zu dem Himmelbett mit den kunstvoll geschnitzten Pfosten um, betrachtete den Kleiderschrank aus Eiche. Auch die Möbel waren vielleicht Antiquitäten aus Sansones Haus. Wenngleich der Mann selbst nicht hier war, konnte sie doch allenthalben seinen Einfluss sehen, von den kostbaren Kunstschätzen an den Wänden bis hin zu den ledergebundenen Werken in seiner Bibliothek. Die isolierte Lage des Schlosses, das gesicherte Tor und die private Zufahrtsstraße spiegelten sein extremes Bedürfnis nach Abgrenzung. Das einzige Stück in diesem Zimmer, das einen Misston hereinbrachte, hing über dem Kaminsims. Es war ein Ölgemälde eines arrogant aussehenden Herrn im Jagdrock, der seine Büchse über die Schulter gelegt hatte und einen Fuß auf einen erlegten Hirsch stellte.
»Das ist Cyril Magnus«, sagte Julian.
»Der Mann, der dieses Schloss erbaut hat?«
»Er war der totale Jagdfreak. Oben auf dem Dachboden liegen haufenweise Trophäen rum, die er aus der ganzen Welt herangeschleppt hat. Früher hingen sie im Speisesaal, bis Dr. Welliver gesagt hat, dass diese ganzen ausgestopften Köpfe ihr den Appetit verderben und Mr. Roman sollte sie doch abnehmen. Dann haben sie sich über die Frage in die Haare gekriegt, ob die Trophäen eine Verherrlichung von Gewalt sind. Am Ende hat Direktor Baum alle abstimmen lassen, auch uns Schüler. Und dann wurden die Trophäen runtergenommen.«
Sie kannte all diese Leute nicht, von denen er redete, und das erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie kein Teil seiner Welt hier im Internat war, dass er jetzt sein eigenes Leben hatte, weit weg und unabhängig von ihr. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, nicht mehr mitzukommen.
»… und jetzt streiten sich Dr. Welliver und Mr. Roman darüber, ob die Schüler jagen lernen sollten oder nicht. Mr. Roman sagt Ja, weil es eine uralte Kunst ist, aber Dr. Welliver meint, es wäre barbarisch. Dann hat Mr. Roman Dr. Welliver darauf hingewiesen, dass sie doch schließlich Fleisch isst, und damit wäre sie selbst eine Barbarin. Mann, war die vielleicht sauer!«
Während Maura Jeans und Wanderschuhe auspackte, Blusen und ein Kleid in den Schrank hängte, erzählte Julian von seinen Mitschülern und Lehrern, von dem Katapult, das sie bei Ms. Saul gebaut hatten, und von der Bergtour, bei der plötzlich ein Schwarzbär in ihr Zeltlager spaziert war.
»Und ich wette, du warst derjenige, der den Bären vertrieben hat«, sagte sie und lächelte.
»Nein, Mr. Roman hat ihn verjagt. Kein Bär hat Lust, sich mit ihm anzulegen.«
»Dann muss er ja ein richtig furchterregender Mann sein.«
»Er ist der Förster hier. Du wirst ihn heute Abend beim Essen kennenlernen. Falls er sich blicken lässt.«
»Er muss doch sicher auch essen?«
»Er geht Dr. Welliver aus dem Weg, wegen dieses Streits, von dem ich dir erzählt habe.«
Maura schloss die Garderobenschublade. »Und wer ist diese Dr. Welliver, die so gegen die Jagd eingestellt ist?«
»Sie ist unsere Psychologin. Ich bin jeden zweiten Donnerstag bei ihr.«
Sie drehte sich um und sah ihn fragend an. »Warum?«
»Weil ich Probleme habe. Wie alle hier.«
»Über welche Probleme sprichst du mit ihr?«
Er sah sie verwirrt an. »Ich dachte, das weißt du. Das ist doch der Grund, warum ich hier bin, der Grund, warum alle Schüler hier für Abendruh ausgewählt wurden. Weil wir anders sind als normale Jugendliche.«
Sie dachte an die Klasse, die sie gerade besucht hatte, die zwei Dutzend Schüler, die sich um den Schautisch von »Professor Giftzwerg« versammelt hatten. Sie waren ihr wie ein ganz normaler Querschnitt der amerikanischen Jugend vorgekommen.
»Was genau ist denn an dir anders?«,
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