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Abendruh: Thriller (German Edition)

Abendruh: Thriller (German Edition)

Titel: Abendruh: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hässlichen Brandnarben übersät waren. Dass Bruno Chinn wie ein Irrer das Essen in sich hineinschaufelte, damit sein eingebildeter Entführer es ihm nicht wegschnappen konnte. Wir alle sind gezeichnet, dachte sie, aber bei manchen von uns sind die Narben sichtbarer als bei anderen.
    Sie berührte ihre eigene. Sie war unter ihren langen blonden Haaren verborgen; ein Wulst aus Narbengewebe markierte die Stelle, wo die Chirurgen ihre Kopfhaut aufgeschnitten und ihren Schädel aufgesägt hatten, um Blut und Geschossfragmente zu entfernen. Niemand sonst konnte die Verletzung sehen, aber Claire vergaß niemals, dass sie da war.
    Als Claire später an diesem Abend wach lag, rieb sie sich immer noch die Narbe, und sie fragte sich, wie ihr Gehirn darunter wohl aussah. Konnte ein Gehirn auch Narben bekommen wie dieser knotige Hautwulst? Einer der Ärzte – an seinen Namen konnte sie sich nicht erinnern, es waren so viele gewesen in diesem Londoner Krankenhaus – hatte ihr gesagt, dass die Gehirne von Kindern oft besser verheilten als die von Erwachsenen und dass sie von Glück sagen könne, dass sie erst elf gewesen war, als sie angeschossen wurde. Er hatte doch tatsächlich das Wort Glück in den Mund genommen, dieser blöde Arzt. Was ihre Genesung betraf, hatte er zwar mehr oder weniger richtiggelegen. Sie konnte gehen und sprechen wie alle anderen. Aber ihre Noten waren jetzt ziemlich miserabel, weil sie Probleme hatte, sich länger als zehn Minuten auf irgendetwas zu konzentrieren, und sie verlor schnell die Beherrschung, auf eine Art, die ihr Angst machte und für die sie sich schämte. Sie sah zwar nicht aus, als ob sie einen Schaden hätte, aber sie wusste, dass es so war. Und das war der Grund, warum sie jetzt um Mitternacht hellwach war. Wie üblich.
    Es war Zeitverschwendung, noch länger im Bett herumzuliegen.
    Sie stand auf und schaltete das Licht ein. Ihre drei Zimmergenossinnen waren über die Ferien nach Hause gefahren, sodass sie den Raum für sich allein hatte und kommen und gehen konnte, ohne dass jemand sie verpfiff. Binnen Sekunden war sie angezogen und schlich sich hinaus auf den Flur.
    Und da entdeckte sie den gemeinen Zettel, der an ihrer Tür hing: Achtung, hirnamputiert!
    Da steckt wieder dieses Miststück von Briana dahinter, dachte sie. Briana, die Spasti zischte, wann immer Claire vorbeiging, die hysterisch lachte, wenn Claire im Klassenzimmer über einen strategisch platzierten Fuß stolperte. Claire hatte sich gerächt, indem sie eine Handvoll schleimiger Regenwürmer in Brianas Bett geschmuggelt hatte. Oh, das Geschrei hatte Claire für alles entschädigt!
    Sie riss den Zettel von der Tür, ging zurück in ihr Zimmer, um einen Stift zu holen, und kritzelte auf das Blatt: Schau lieber mal unter deiner Decke nach. Auf dem Weg nach unten klatschte sie den Zettel an die Tür von Brianas Schlafsaal und ging weiter, vorbei an den Zimmern, in denen andere Klassenkameraden schliefen. Auf der Treppe huschte ihr Schatten über die Wand wie ein geisterhafter Zwilling, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. Sie trat aus der Tür und hinaus in die mondhelle Nacht.
    Die Luft war ungewöhnlich warm, und der Wind roch nach trockenem Gras, als ob er aus weiter Ferne herwehte und den Duft von Prärien und Wüsten mitbrachte, von Orten, die sie nie sehen würde. Sie atmete tief durch, und zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich frei. Frei vom Unterricht, von den Lehrern, die sie beobachteten, von Brianas Spötteleien.
    Sie stieg die Steinstufen hinunter, und das helle Mondlicht wies ihr den Weg. Der See lag vor ihr, mit den kleinen Wellen, die wie Pailletten glitzerten, und er schien sie zu rufen. Sie begann, ihr T-Shirt hochzuziehen, konnte es kaum erwarten, in die seidigen Fluten einzutauchen.
    »Du bist ja wieder draußen«, ertönte eine Stimme.
    Claire fuhr herum und sah, wie die Gestalt sich aus dem Schatten der Bäume löste. Sie erkannte ihn sofort an der massigen Silhouette. Will Yablonski trat hinaus ins Mondlicht, wo sie sein pausbäckiges Gesicht sehen konnte. Sie fragte sich, ob er wohl wusste, dass Briana ihn hinter seinem Rücken den » großen weißen Wal « nannte. Das haben Will und ich jedenfalls gemeinsam, dachte sie. Wir sind beide definitiv uncool.
    »Was machst du hier draußen?«, fragte sie.
    »Ich habe durch mein Teleskop geschaut. Aber jetzt ist der Mond aufgegangen, also hab ich es für diese Nacht eingepackt.« Er deutete auf den See. »Das ist wirklich eine gute Stelle, da

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