Abendruh: Thriller (German Edition)
unterrichten?«
»Unterrichten?« Sie sah Julian an. »Das hatte ich eigentlich nicht vor.«
»Wir würden gerne etwas über Rechtsmedizin hören«, meldete sich ein Junge mit asiatischen Zügen zu Wort. »In Bio haben wir Frösche und Schweineembryos seziert, aber das war bloß normale Anatomie. Nicht die coolen Sachen, die Sie mit Leichen machen.«
Maura ließ den Blick über die neugierigen Gesichter schweifen. Wahrscheinlich bezogen sie – wie so viele Erwachsene auch – ihre Vorstellungen von der Rechtsmedizin hauptsächlich aus Fernsehserien und Krimis. »Ich weiß nicht, ob das ein angemessenes Thema wäre«, sagte sie.
»Weil wir dafür zu jung sind?«
»Rechtsmedizin ist normalerweise ein Spezialgebiet im Rahmen des Medizinstudiums. Sogar den meisten Erwachsenen bereitet das Thema Unbehagen.«
»Das wäre bei uns nicht das Problem«, meinte der asiatische Junge. »Aber vielleicht hat Julian Ihnen nicht erzählt, wer wir sind.«
Was ihr seid, ist schon klar – ihr seid merkwürdig, dachte Maura, während sie Julians Schulkameraden nachblickte und die Dielen unter ihren schlurfenden Schritten knarren hörte. In der Stille, die darauf folgte, gab Bear ein gelangweiltes Jaulen von sich und kam herbeigetrottet, um Julians Hand zu lecken.
» Wer wir sind? Was hat er damit gemeint?«, fragte Maura.
Es war der Lehrer, der antwortete. »Wie allzu viele seiner Klassenkameraden schaltet der junge Mr. Chinn oft seinen Mund vor seinem Gehirn ein. Es hat wenig Zweck, aus dem zusammenhanglosen Geplapper von Heranwachsenden eine tiefere Bedeutung herauslesen zu wollen.« Der Mann beäugte Maura missmutig über den Rand seiner Brille hinweg. »Ich bin Professor Pasquantonio. Julian hat uns gesagt, dass Sie diese Woche zu Besuch kommen, Dr. Isles.« Er warf dem Jungen einen Seitenblick zu, und ein angedeutetes Lächeln huschte über seine Lippen. »Er ist übrigens ein guter Schüler. Muss noch an seinem schriftlichen Ausdruck arbeiten, und seine Rechtschreibung ist eine Katastrophe. Aber er ist besser als alle anderen, wenn es darum geht, ungewöhnliche botanische Exemplare im Wald zu entdecken.«
Das Kompliment, wenngleich mit Kritik versetzt, entlockte Julian ein Grinsen. »Ich werde an meiner Rechtschreibung arbeiten, Professor.«
»Genießen Sie Ihren Aufenthalt bei uns, Dr. Isles«, sagte Pasquantonio, während er seine Unterlagen und die botanischen Anschauungsobjekte vom Tisch einzusammeln begann. »Sie haben Glück, um diese Jahreszeit ist es hier schön ruhig. Nicht so viele lärmende Füße, die die Treppen rauf- und runtertrampeln wie eine Herde Elefanten.«
Mauras Blick fiel auf den Strauß lila Blumen, die der Mann in der Hand hielt. »Eisenhut.«
Pasquantonio nickte. » Aconitum. Sehr gut.«
Sie betrachtete die anderen Exemplare, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Fingerhut. Bilsenkraut. Und Rhabarber.«
»Und das hier?« Er hielt einen Zweig mit verdorrten Blättern hoch. »Sie bekommen Zusatzpunkte, wenn Sie mir sagen können, von welchem blühenden Strauch das hier stammt?«
»Das ist Oleander.«
Er sah sie an, und in seinen hellen Augen blitzte Interesse auf. »Und obwohl er in diesen Breiten gar nicht wächst, haben Sie ihn erkannt.« Er senkte sein kahles Haupt zu einer angedeuteten Verbeugung. »Ich bin beeindruckt.«
»Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, wo Oleander sehr verbreitet ist.«
»Und ich vermute, dass Sie auch Gärtnerin sind.«
»Ich habe zumindest den Ehrgeiz. Aber ich bin vor allem Rechtsmedizinerin.« Sie sah die Pflanzensammlung auf dem Tisch an. »Das sind alles Giftpflanzen.«
Er nickte. »Und manche davon sind wunderschön. Eisenhut und Fingerhut ziehen wir hier in unserem Blumengarten. Der Rhabarber ist aus unserem Gemüsegarten. Und das Bilsenkraut mit seinen entzückenden gelben Blüten wächst überall wild. Die Instrumente des Todes begegnen uns auf Schritt und Tritt, verborgen unter hübschen Verkleidungen.«
»Und das bringen Sie Kindern bei?«
»Sie brauchen dieses Wissen genau wie jeder andere. Es erinnert sie daran, dass die Welt der Natur voller Gefahren ist, wie Sie ganz genau wissen.« Er legte die Anschauungsobjekte in ein Regal und raffte seine Notizen zusammen. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Dr. Isles«, sagte er, ehe er sich zu Julian umwandte. »Mr. Perkins, der Besuch Ihrer Freundin darf keinesfalls als Entschuldigung für die verspätete Abgabe von Hausaufgaben herhalten. Nur damit wir uns da recht
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