Abendruh: Thriller (German Edition)
fragte sie.
»Die Art und Weise, wie ich meine Mutter verloren habe. Es ist das, was auch alle anderen hier vom Rest unterscheidet.«
»Die anderen Schüler haben auch Elternteile verloren?«
»Manche ja. Bei anderen waren es Geschwister. Dr. Welliver hilft uns, mit der Wut klarzukommen. Mit den Albträumen. Und Abendruh bringt uns bei, wie wir uns wehren können.«
Sie dachte daran, wie Julians Mutter gestorben war. Daran, wie die Schockwellen eines Gewaltverbrechens in Familien nachwirken, bei Freunden und Bekannten, und das über Generationen hinweg. Abendruh bringt uns bei, wie wir uns wehren können.
»Wenn du sagst, dass die anderen Schüler auch ihre Eltern oder Geschwister verloren haben«, sagte Maura, »meinst du damit …«
»Mord«, sagte Julian. »Das ist es, was wir alle gemeinsam haben.«
8
An diesem Abend gab es im Speisesaal ein neues Gesicht.
Seit Wochen schon erzählte Julian von dieser Besucherin, Dr. Isles, und von ihrer Arbeit im Rechtsmedizinischen Institut von Boston, wo sie Leichen aufschnitt. Was er nie erwähnt hatte, war, dass sie auch eine Schönheit war. Dunkelhaarig und schlank, mit einem ruhigen, durchdringenden Blick, sah sie Julian so ähnlich, dass man sie fast für Mutter und Sohn hätte halten können. Und Dr. Isles schaute Julian auch so an, wie nur eine Mutter ihr Kind anschaute: mit unübersehbarer Bewunderung, aufmerksam jedem seiner Worte lauschend.
Niemand wird mich je wieder so anschauen, dachte Claire Ward.
Sie saß allein auf ihrem gewohnten Platz in der Ecke, beobachtete von dort Dr. Isles, und ihr fiel auf, wie elegant diese Frau Messer und Gabel handhabte, wenn sie ihr Fleisch schnitt. Von diesem Tisch aus konnte Claire alles sehen, was im Speisesaal vor sich ging. Es machte ihr nichts aus, allein zu sitzen – im Gegenteil: So musste sie sich nicht an sinnlosen Gesprächen beteiligen und bekam alles mit, was die anderen taten. Und diese Ecke war der einzige Platz, wo sie sich wohlfühlte; hier saß sie mit dem Rücken zur Wand, und niemand konnte sich von hinten an sie heranschleichen.
Heute bestand das Menü aus einer Kraftbrühe, einem grünen Salat, Filet Wellington mit Bratkartoffeln und Spargel und einem Zitronentörtchen als Dessert. Das bedeutete, dass man mit einer ganzen Reihe von Gabeln und Löffeln und Messern hantieren musste, was Claire anfangs verwirrt hatte, als sie vor einem Monat nach Abendruh gekommen war. Bei Bob und Barbara Buckley in Ithaca war das Essen eine viel einfachere Angelegenheit gewesen – man hatte lediglich ein Messer und eine Gabel gebraucht und dazu ein, zwei Papierservietten.
Und Filet Wellington war nie auf den Tisch gekommen.
Bob und Barbara fehlten ihr mehr, als sie es sich je hätte vorstellen können. Sie vermisste sie fast so sehr wie ihre Eltern, nach deren Tod vor zwei Jahren ihr nur erschreckend verschwommene Erinnerungen geblieben waren, die mit jedem Tag noch mehr verblassten. Aber der Tod von Bob und Barbara war immer noch frisch, tat immer noch weh, weil alles Claires Schuld war. Wenn sie sich an jenem Abend nicht aus dem Haus geschlichen hätte, wenn Bob und Barbara nicht gezwungen gewesen wären, sich auf die Suche nach ihr zu machen, dann wären sie vielleicht noch am Leben.
Jetzt sind sie tot. Und ich esse ein Zitronentörtchen.
Sie legte ihre Gabel beiseite und starrte an den anderen Schülern vorbei, die sie zumeist ignorierten, so wie Claire sie ignorierte. Wieder blieb ihr Blick an dem Tisch hängen, wo Julian mit Dr. Isles saß. Mit der Frau, die tote Menschen aufschnitt. Normalerweise vermied Claire es, die Erwachsenen anzuschauen, weil die sie nervös machten und zu viele Fragen stellten. Ganz besonders Dr. Anna Welliver, die Schulpsychologin, bei der Claire jeden Mittwochnachmittag war. Dr. Welliver war eigentlich ganz nett, ein großmütterlicher Typ mit fülliger Statur und krausen Haaren, aber sie stellte immer die gleichen Fragen. Ob Claire immer noch schlecht schlafe? Welche Erinnerungen sie an ihre Eltern habe? Ob das mit den Albträumen besser geworden sei? Als ob die Albträume verschwinden würden, bloß weil man darüber redete oder darüber nachdachte.
Und wir alle hier haben Albträume.
Wenn sie sich unter ihren Mitschülern im Speisesaal umschaute, konnte Claire Dinge sehen, die einem zufälligen Beobachter wahrscheinlich entgangen wären. Dass Lester Grimmett immer wieder zur Tür schielte, um sich zu vergewissern, dass der Fluchtweg frei war. Dass Arthur Toombs’ Arme mit
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