Abendruh: Thriller (German Edition)
verstehen.«
»Ja, Sir«, sagte Julian feierlich. Er behielt seinen ernsten Gesichtsausdruck bei, bis Professor Pasquantonio außer Hörweite war, und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Jetzt weißt du, warum wir ihn ›Giftzwerg‹ nennen.«
»Er scheint mir nicht gerade einer der nettesten Lehrer zu sein.«
»Ist er auch nicht. Er redet lieber mit seinen Pflanzen.«
»Ich hoffe, deine anderen Lehrer sind nicht ganz so seltsam.«
»Wir sind alle seltsam. Deswegen ist es hier auch so interessant. Wie Ms. Saul sagt: Normal ist doch langweilig.«
Sie lächelte ihn an, strich ihm wieder über die Wange. Diesmal wich er nicht zurück. »Klingt, als ob du hier glücklich bist, Rat. Kommst du mit allen zurecht?«
»Besser als jemals zu Hause.«
Sein Zuhause in Wyoming war für Julian ein freudloser Ort gewesen. In der Schule war er nur mit Ach und Krach über die Runden gekommen, gemobbt und verspottet von den Mitschülern, und hatte weniger mit schulischen Leistungen als vielmehr durch Probleme mit der Polizei und Prügeleien auf dem Schulhof auf sich aufmerksam gemacht. Schon mit sechzehn schien ihm eine Zukunft in einer Gefängniszelle vorherbestimmt.
Es war also etwas Wahres an Julians Bemerkung, er sei »seltsam«. Er war nicht normal und würde es nie sein. Von der eigenen Familie verstoßen, allein in die Wildnis geworfen, hatte er gelernt, nur auf sich selbst zu vertrauen. Er hatte einen Mann getötet – zwar in Notwehr, doch das Blut eines anderen Menschen zu vergießen verändert einen Menschen für immer, und Maura fragte sich, wie sehr die Erinnerung an diesen Vorfall ihn immer noch verfolgte.
Er nahm ihre Hand. »Komm, ich führe dich herum.«
»Ms. Saul hat mir schon die Bibliothek gezeigt.«
»Warst du schon in deinem Zimmer?«
»Nein.«
»Es ist im alten Flügel, wo alle wichtigen Gäste untergebracht werden. Mr. Sansone wohnt auch immer dort, wenn er zu Besuch ist, aber er war jetzt schon länger nicht mehr hier. In deinem Zimmer gibt es einen großen alten Kamin aus Stein. Als Brianas Tante zu Besuch war, hat sie vergessen, den Rauchabzug zu öffnen, und plötzlich war das Zimmer voller Rauch. Das ganze Gebäude musste evakuiert werden. Also, du denkst doch dran, ja? An den Rauchabzug?« Und blamierst mich nicht war die unausgesprochene Botschaft.
»Ich werde es nicht vergessen. Wer ist denn Briana?«
»Ach, bloß ein Mädchen hier im Internat.«
» Bloß ein Mädchen?« Mit seinen dunklen Haaren und dem durchdringenden Blick wuchs Julian allmählich zu einem gut aussehenden jungen Mann heran, nach dem sich schon bald die Frauen umdrehen würden. »Mehr Details, bitte.«
»Sie ist niemand Besonderes.«
»Habe ich sie vorhin in der Klasse gesehen?«
»Mhm. Sie ist die mit den langen schwarzen Haaren. Und dem superkurzen Rock.«
»Oh. Du meinst die Hübsche?«
»Kann sein.«
Sie lachte. »Ach, komm schon. Erzähl mir nicht, dass dir das nicht aufgefallen ist.«
»Doch, schon. Aber ich glaube, sie ist irgendwie doof. Auch wenn sie mir leidtut.«
»Sie tut dir leid? Wieso?«
Er sah sie an. »Sie ist hier, weil ihre Mutter ermordet wurde.«
Jetzt bedauerte Maura plötzlich, dass sie ihn so unbekümmert über seine Freundschaften ausgefragt hatte. Heranwachsende Jungs waren für sie ein Buch mit sieben Siegeln, äußerlich gestandene Mannsbilder mit Muskeln und großen Füßen, innerlich ein Tohuwabohu von Hormonen, einmal empfindsam und verletzlich, im nächsten Moment wieder kalt und abweisend. Sosehr sie ihm eine Mutter sein wollte, sie wusste doch, dass sie nie besonders gut darin sein würde, dass sie nie die Instinkte einer Mutter haben würde.
Schweigend folgte sie ihm, als er den Flur im zweiten Stock entlangging. Die Gemälde an den Wänden zeigten mittelalterliche Dörfer, festliche Tafeln, eine bleiche Madonna mit Kind. Ihr Gästezimmer lag nahe dem Ende des Flurs. Als sie eintrat, sah sie, dass ihr Koffer bereits heraufgebracht worden war; er lag auf einem Gepäckständer aus Kirschholz. Durch das Bogenfenster blickte sie in einen ummauerten Garten mit steinernen Statuen. Jenseits davon schien der dichte Wald heranzurücken wie eine Invasionsarmee.
»Dein Zimmer geht nach Osten, da hast du morgen früh einen schönen Blick auf den Sonnenaufgang.«
»Hier hat man überall einen herrlichen Blick.«
»Mr. Sansone meinte, dass dir dieses Zimmer gefallen würde. Es ist das ruhigste von allen.«
Sie blieb am Fenster stehen und kehrte ihm den Rücken zu, als sie
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