Abendruh: Thriller (German Edition)
schien der Panzer seiner Reserviertheit undurchdringlicher denn je.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte sie. »Es geht um Julian.«
»Selbstverständlich. Morgen früh vielleicht? Ich reise erst am Nachmittag ab.«
»Sie sind nur so kurz hier?«
Er zuckte bedauernd mit den Achseln. »Ich wünschte, ich könnte länger bleiben. Aber wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, können Sie sich auch jederzeit an Gottfried wenden.«
» Haben Sie etwas auf dem Herzen, Dr. Isles?«, fragte Baum.
»Ja, allerdings. Ich frage mich, warum Julian hier ist. Abendruh ist nicht einfach nur ein Internat, oder?«
Sie sah, wie die beiden Männer einen Blick wechselten.
»Dieses Thema sollten wir uns lieber für morgen aufheben«, sagte Sansone.
»Wir müssen unbedingt darüber reden. Bevor Sie wieder verschwinden.«
»Das werden wir, ich verspreche es.« Er nickte ihr knapp zu. »Gute Nacht, Maura.«
Sie schloss ihre Tür, verstört durch seine unnahbare Art. Ihr letztes Gespräch lag erst zwei Monate zurück; damals hatte Julian Maura besucht, und Sansone hatte ihn bei ihr abgesetzt. Sie hatten eine Weile an der Tür gestanden und geplaudert, hatten einander angelächelt, und sie hatte den Eindruck gehabt, dass er gerne noch länger geblieben wäre. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Bin ich je klug gewesen, wenn es um Männer ging?
Ihre bisherige Bilanz war zweifellos ziemlich niederschmetternd. In den letzten zwei Jahren hatte sie sich in eine Affäre mit einem Mann verrannt, den sie niemals haben konnte; eine Affäre, von der sie immer gewusst hatte, dass sie nicht gut enden konnte, und doch war sie wie ein Junkie der Versuchung hilflos erlegen. Letztlich lief es doch auf das Gleiche hinaus: Das Gehirn war von Drogen vernebelt. Adrenalin und Dopamin, Oxytocin und Serotonin. Chemisch hervorgerufener Wahnsinn, gefeiert von Dichtern.
Diesmal werde ich nicht so dumm sein, ich schwöre es.
Sie ging wieder zum Fenster, um den Vorhang zuzuziehen und das Mondlicht auszusperren – noch so eine Quelle des Wahnsinns, gepriesen von den gleichen ahnungslosen Poeten. Erst als sie nach dem Vorhang griff, fiel ihr die Gestalt wieder ein, die sie vorhin gesehen hatte. Sie starrte in den Garten hinunter, sah die Statuen in einer silbergrauen Landschaft aus Schatten und Mondlicht. Nichts rührte sich.
Das Mädchen war verschwunden.
Oder war da vielleicht gar kein Mädchen? , fragte sich Maura am nächsten Morgen, als sie aus demselben Fenster schaute und einen Gärtner erblickte, der gebückt mit einer Heckenschere hantierte. Ein Hahn krähte aus voller Brust, als wollte er der ganzen Welt verkünden, dass er der Größte war. Es schien ein ganz und gar gewöhnlicher Morgen zu sein: die Sonne schien, der Hahn krähte ein ums andere Mal. Aber letzte Nacht im Mondschein – wie unwirklich war ihr da alles vorgekommen.
Jemand klopfte an ihre Tür. Es war Lily Saul, die sie munter begrüßte: »Guten Morgen! Wir treffen uns im Kuriositätenkabinett, möchten Sie dazukommen?«
»Was ist das für ein Treffen?«
»Wir wollen über Ihre Probleme mit Abendruh sprechen. Anthony sagte, Sie hätten Fragen, und wir sind bereit, sie zu beantworten.« Sie wies in Richtung Treppenhaus. »Es ist unten, gegenüber von der Bibliothek. Der Kaffee ist schon fertig.«
Als Maura das Kuriositätenkabinett betrat, stellte sie fest, dass weit mehr als nur Kaffee auf sie wartete. Die Wände waren gesäumt von Vitrinen voller archäologischer Fundstücke: aus Stein gemeißelte Figuren und Werkzeuge, Speerspitzen und Tierknochen. Die vergilbten Etiketten verrieten ihr, dass dies eine alte Sammlung war, die vielleicht schon Cyril Magnus selbst gehörte hatte. Normalerweise hätte sie sich die Zeit genommen, die Schätze eingehend zu studieren, doch die fünf Menschen, die bereits an dem massiven Eichentisch saßen, forderten ihre Aufmerksamkeit.
Sansone erhob sich von seinem Stuhl und sagte: »Guten Morgen, Maura. Unseren Direktor Gottfried Baum kennen Sie ja schon. Neben ihm sitzt Ms. Duplessis; sie unterrichtet Literatur. Unser Botanikprofessor, David Pasquantonio. Und das ist Dr. Anna Welliver, unsere Schulpsychologin.« Er wies auf die kräftig gebaute Frau zu seiner Rechten, die Maura freundlich anlächelte. Dr. Welliver war Anfang sechzig und wirkte mit ihren silbergrauen Haaren, die sich zu einer wilden Mähne türmten, und ihrem hochgeschlossenen Omakleid wie ein alterndes Blumenkind.
»Bitte sehr, Dr. Isles«, sagte Baum und deutete auf die
Weitere Kostenlose Bücher