Abendruh: Thriller (German Edition)
Ziele voranzutreiben.«
»Sie meinen unseren Einsatz gegen die Gewalt? Gegen das Böse, das Menschen einander antun?« Pasquantonio schnaubte. »Sie tun ja gerade so, als ob wir mit Drogen dealen oder Gangster heranziehen.«
»Wir helfen, ihre seelischen Wunden zu heilen, Dr. Isles«, sagte Lily. »Wir wissen, wie es ist, das Opfer eines Verbrechens zu werden. Wir helfen ihnen, ihren Schmerz in etwas Positives umzuwandeln. So, wie wir selbst es getan haben.«
Wir wissen, wie es ist. Ja, Lily Saul wusste es sicherlich; ein Mörder hatte ihr die Familie genommen. Und auch Sansone hatte seinen Vater durch einen Mord verloren.
Maura sah in die sechs Gesichter, und ein Frösteln überlief sie, als sie endlich begriff. »Sie haben alle jemanden verloren«, sagte sie.
Gottfried nickte betrübt. »Meine Frau«, sagte er. »Ein Raubüberfall in Berlin.«
»Meine Schwester«, sagte Ms. Duplessis. »Vergewaltigt und erwürgt in Detroit.«
»Mein Mann«, sagte Dr. Welliver leise und senkte den Kopf. »Entführt und ermordet in Buenos Aires.«
Maura wandte sich zu Pasquantonio um, der schweigend den Tisch anstarrte. Er beantwortete die Frage nicht, und es war auch nicht nötig. Die Antwort war in seinem Gesicht zu lesen. Sie musste plötzlich an ihre eigene Zwillingsschwester denken, die vor wenigen Jahren ermordet worden war. Und Maura erkannte plötzlich: Auch ich gehöre zu diesem Kreis. Wie sie trauere ich um jemanden, den ich durch eine Gewalttat verloren habe.
»Wir verstehen diese Kinder«, sagte Dr. Welliver. »Deswegen sind sie in Abendruh am besten aufgehoben. Vielleicht ist es der einzig richtige Ort für sie. Weil sie zu uns gehören. Wir sind alle eine Familie.«
»Von Opfern.«
»Nicht von Opfern. Wir sind diejenigen, die überlebt haben.«
»Ihre Schüler mögen Überlebende von Gewalttaten sein«, sagte Maura, »aber sie sind auch einfach nur Kinder. Sie können nicht für sich selbst entscheiden. Sie können sich nicht wehren.«
»Sich wehren wogegen?«, fragte Dr. Welliver.
»Dagegen, dass sie für Ihre Armee zwangsrekrutiert werden. Das ist doch das Bild, das Sie von sich haben. Eine Armee der Gerechten. Sie sammeln die Verwundeten ein und formen sie zu Kriegern.«
»Wir fördern sie. Wir bieten ihnen eine Möglichkeit, nach einem Unglück wieder auf die Beine zu kommen.«
»Nein, Sie halten sie an einem Ort fest, an dem sie niemals die Chance bekommen zu vergessen. Indem Sie sie mit anderen Opfern umgeben, rauben Sie ihnen jede Gelegenheit, die Welt so zu sehen, wie andere Kinder sie sehen. Statt Licht sehen sie nur Finsternis. Das Böse.«
»Weil es nun einmal existiert. Das Böse«, flüsterte Pasquantonio. Er saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, den Kopf immer noch gesenkt. »Den Beweis liefert den Kindern ihr eigenes Leben. Sie bekommen nur das zu sehen, von dem sie bereits wissen, dass es existiert.« Langsam hob er den Kopf und sah sie mit seinen hellen, wässrigen Augen an. »Genau wie Sie, Dr. Isles.«
»Nein«, widersprach sie. »Was ich bei meiner Arbeit sehe, ist das Ergebnis von Gewalt. Das, was Sie das Böse nennen, ist nur ein philosophischer Begriff.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Diese Kinder kennen die Wahrheit. Sie ist in ihr Gedächtnis eingebrannt.«
Gottfried Baum bemerkte in sachlichem Ton: »Wir liefern ihnen das Wissen und die Fertigkeiten, die sie brauchen, um in dieser Welt etwas zu erreichen. Wir ermuntern sie dazu, ihr Leben aktiv zu gestalten, so wie andere Privatschulen es auch tun. Militärakademien lehren Disziplin. Religiöse Schulen lehren Frömmigkeit. Andere Schulen bereiten auf ein Universitätsstudium vor.«
»Und Abendruh?«
»Wir lehren innere Stärke, Dr. Isles«, antwortete Gottfried Baum.
Maura sah in die Gesichter der um den Tisch Versammelten, alles eifrige Verfechter ihrer Sache. Und die sie anwarben, waren die Verletzten und Schutzlosen – Kinder, denen man keine Wahl gelassen hatte.
Sie stand auf. »Julian gehört nicht hierher. Ich werde eine andere Schule für ihn finden.«
»Ich fürchte, das ist nicht Ihre Entscheidung«, sagte Dr. Welliver. »Sie haben nicht das Sorgerecht für den Jungen.«
»Ich werde einen Antrag beim Staat Wyoming stellen.«
»Soviel ich weiß, hatten Sie vor sechs Monaten die Gelegenheit dazu. Sie haben abgelehnt.«
»Weil ich glaubte, diese Schule sei der richtige Ort für ihn.«
»Abendruh ist der richtige Ort für ihn, Maura«, sagte Sansone. »Ihn von dieser Schule zu nehmen wäre ein Fehler.
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