Abendruh: Thriller (German Edition)
Einer, den Sie noch bedauern würden.« Lag da eine Warnung in seiner Stimme? Sie versuchte, seine Miene zu deuten, doch wie schon so oft gelang es ihr nicht.
»Das ist doch Julians Sache, finden Sie nicht?«, meinte Dr. Welliver.
»Ja, natürlich«, erwiderte Maura. »Aber ich werde ihm ganz genau sagen, was ich von dieser Sache halte.«
»Dann würde ich vorschlagen, dass Sie sich erst einmal die Zeit nehmen zu verstehen, was wir hier tun.«
»Das verstehe ich sehr wohl.«
»Sie sind erst gestern angekommen, Dr. Isles«, sagte Lily. »Sie haben noch nicht gesehen, was wir diesen Kindern bieten. Sie sind nicht durch unseren Wald gegangen, haben nicht unsere Ställe und unsere Farm gesehen, haben nicht mitbekommen, was den Kindern hier alles beigebracht wird. Von Bogenschießen über den Anbau der Lebensmittel für den eigenen Bedarf bis hin zum Überleben in der Wildnis. Ich weiß, dass Sie Naturwissenschaftlerin sind. Sollten Sie nicht Ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Fakten und nicht von Emotionen treffen?«
Das gab Maura zu denken. Was Lily gesagt hatte, war richtig. Sie hatte Abendruh noch nicht erkundet. Sie hatte keine Ahnung, ob es für Julian eine bessere Alternative gab.
»Geben Sie uns eine Chance«, sagte Lily. »Nehmen Sie sich die Zeit, unsere Schüler kennenzulernen, und Sie werden sehen, warum Abendruh der einzige Ort ist, wo ihnen geholfen werden kann. Nur ein Beispiel: Wir haben gerade zwei neue Schüler aufgenommen. Beide haben zweimal hintereinander ein Massaker überlebt. Zuerst wurden ihre Eltern ermordet, dann ihre Pflegeeltern. Können Sie sich vorstellen, wie tief die Verletzungen dieser Kinder sein müssen, die zweimal zu Waisen gemacht wurden, zweimal die einzigen Überlebenden waren?« Lily schüttelte den Kopf. »Ich weiß von keiner anderen Schule, wo sie so viel Verständnis für ihren Schmerz finden würden wie hier bei uns.«
Zweimal zu Waisen gemacht. Zweimal die einzigen Überlebenden. »Diese Kinder«, fragte Maura leise. »Wer sind sie?«
»Ihre Namen tun nichts zur Sache«, sagte Dr. Welliver. »Worum es geht, ist, dass sie Abendruh brauchen .«
»Ich will wissen, wer sie sind .« Mauras heftiger Ton schien sie alle zu erschrecken.
Es war eine Weile still, dann fragte Lily: »Warum sind ihre Namen so wichtig?«
»Sie sagten, es sind zwei.«
»Ja, ein Junge und ein Mädchen.«
»Gibt es eine Verbindung zwischen ihren Fällen?«
»Nein. Will ist aus New Hampshire zu uns gekommen. Claire kam aus Ithaca im Staat New York. Warum fragen Sie?«
»Weil ich gerade die Mitglieder einer Familie aus Boston obduziert habe, die bei einem Überfall auf ihr Haus ums Leben gekommen sind. Es gab einen einzigen Überlebenden, den Pflegesohn der Familie. Ein Junge von vierzehn Jahren. Ein Junge, der vor zwei Jahren zur Waisen wurde, als seine Familie massakriert wurde.« Sie blickte in ihre betroffenen Gesichter. »Er ist genau wie Ihre zwei neuen Schüler. Zweimal zur Waisen geworden. Zweimal der einzige Überlebende.«
10
Es war ein seltsamer Ort für ein Treffen.
Jane stand auf dem Gehsteig und betrachtete skeptisch die verdunkelten Fenster, auf denen über einer Darstellung einer drallen Frau in Pluderhosen der Name ARABIAN NIGHTS in abblätternden goldenen Lettern prangte. Plötzlich ging die Tür auf, und ein Mann stolperte heraus. Er stand einen Moment lang wankend da und blinzelte ins grelle Tageslicht, ehe er davontorkelte, wobei er eine säuerliche Schnapsfahne hinter sich herzog.
Als Jane das Etablissement betrat, schlug ihr eine noch heftigere Alkoholwolke entgegen. Drinnen war es so düster, dass sie nur die Silhouetten der zwei Männer ausmachen konnte, die über ihre Drinks gebeugt am Tresen hockten. Die Sitzbänke in den Nischen waren mit Samt bezogen und mit kitschigen bunten Kissen und Kamelglocken geschmückt, und Jane hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich eine Bauchtänzerin mit einem Tablett voll Cocktails vorbeigetrippelt wäre.
»Darf’s was sein, Miss?«, rief der Barkeeper, worauf die beiden Gäste auf ihren Hockern herumfuhren und sie anstarrten.
»Ich bin mit jemandem verabredet«, sagte sie.
»Sie wollen sicher zu dem da am letzten Tisch.«
Eine Stimme ertönte: »Ich bin hier, Jane.«
Sie nickte dem Barkeeper zu und ging nach hinten, wo ihr Vater in einer Nische saß, fast ganz versunken in Bergen von weichen Samtkissen. Vor ihm stand ein Glas mit etwas, das wie Whiskey aussah. Es war noch nicht einmal fünf Uhr, und er trank
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