Abendruh: Thriller (German Edition)
aber es ist verdammt merkwürdig, findest du nicht?
Jane hörte sich die Nachricht zweimal an und wählte dann die Nummer, von der aus Maura angerufen hatte.
Nach dem sechsten Läuten meldete sich eine Frau: »Internat Abendruh, Dr. Welliver am Apparat.«
»Hier ist Detective Jane Rizzoli vom Boston PD. Ich hätte gerne Dr. Maura Isles gesprochen.«
»Ich fürchte, sie ist ausgegangen.«
»Dann versuche ich es auf ihrem Handy.«
»Wir haben hier draußen keinen Handyempfang. Deswegen hat sie ja unser Festnetztelefon benutzt.«
»Dann sagen Sie ihr bitte, dass sie mich so bald wie möglich zurückrufen soll. Danke.« Jane legte auf und starrte eine Weile ihr Telefon an, jeder Gedanke an ihre Eltern vorerst vergessen. Stattdessen dachte sie über Teddy Clock nach. Der größte Pechvogel der Welt, hatte Moore ihn genannt. Aber jetzt wusste sie von zwei anderen, denen es genauso ging wie ihm. Drei Kinder, alle vom Unglück verfolgt. Vielleicht gab es noch mehr, von denen sie nichts wussten, Pflegekinder in anderen Städten, denen in diesem Augenblick ein Mörder nach dem Leben trachtete.
»Ich muss noch mal weg«, sagte sie.
»Was ist denn passiert?«, fragte Gabriel.
»Ich muss zu Teddy Clock.«
»Gibt es ein Problem?«
Sie schnappte sich ihre Autoschlüssel und eilte zur Tür. »Ich hoffe nicht.«
Es war schon dunkel, als sie bei der Pflegefamilie eintraf, der Teddy vorläufig zugewiesen worden war. Es war ein älteres, aber sehr gepflegtes Haus im Kolonialstil, und es stand in einer ruhigen Wohngegend etwas abseits der Straße, beschattet von Laubbäumen. Jane parkte in der Einfahrt und stieg aus. Der Abend war mild, die Luft roch nach frisch gemähtem Gras. Es war still hier, nur dann und wann fuhr ein Auto vorbei. Im dichten Laub der Bäume konnte sie gerade so die Lichter des Nachbarhauses durchschimmern sehen.
Sie stieg die Verandastufen hinauf und klingelte.
Mrs. Nancy Inigo öffnete die Tür und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Ihr lächelndes Gesicht war mit Mehl verschmiert, und ein paar graue Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst. Ein Duft nach Zimt und Vanille wehte Jane entgegen, und im Hintergrund hörte sie Mädchen lachen.
»Sie haben es ja in Rekordzeit hierher geschafft, Detective«, sagte Nancy.
»Tut mir leid, wenn ich Sie mit meinem Anruf beunruhigt habe.«
» Aber nicht doch – ich backe gerade mit den Mädchen Plätzchen für die Schule, und wir haben einen Riesenspaß dabei. Gerade haben wir das erste Blech aus dem Ofen geholt. Kommen Sie doch rein.«
»Geht es Teddy gut?«, fragte sie leise, als sie in die Diele trat.
Nancy seufzte. »Ich fürchte, er versteckt sich gerade oben in seinem Zimmer. Hat einfach keine Lust, zu uns in die Küche zu kommen. So geht das schon die ganze Zeit. Er isst sein Abendessen, dann geht er rauf in sein Zimmer und macht die Tür zu.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben die Psychologin gefragt, ob wir ihn dazu überreden sollten herauszukommen, ob wir vielleicht seine Zeit am Computer beschränken sollten, damit er gezwungen ist, mehr an Familienaktivitäten teilzunehmen, aber sie sagte, es sei noch zu früh. Oder vielleicht hat Teddy einfach Angst, sich zu sehr an uns zu binden, nachdem seine letzten Pflegeeltern so …« Nancy hielt inne. »Patrick und ich gehen es mit ihm ganz langsam an.«
»Ist Patrick zu Hause?«
»Nein, er ist mit Trevor beim Fußballtraining. Bei vier Kindern gibt es kaum einmal einen ruhigen Moment.«
»Sie beide sind wirklich was ganz Besonderes, wissen Sie das?«
»Wir haben einfach nur gerne Kinder um uns herum, das ist alles«, erwiderte Nancy und lachte. Sie gingen in die Küche, wo zwei über und über mit Mehl bestäubte Mädchen von ungefähr acht Jahren Ausstechförmchen in eine Lage Teig drückten. »Nachdem wir einmal angefangen hatten, Kinder aufzunehmen, konnten wir einfach nicht mehr aufhören. Wussten Sie, dass wir demnächst schon die vierte Hochzeit feiern? Patrick führt nächsten Monat eine andere Pflegetochter von uns zum Altar.«
»Da werden Sie beide ja bald eine ganze Schar von Enkelkindern haben.«
Nancy grinste. »Das ist doch Sinn und Zweck der ganzen Sache.«
Jane blickte sich in der Küche um, wo die Arbeitsflächen mit Schulheften, Büchern und verstreuter Post übersät waren. Das muntere Chaos einer ganz normalen, aktiven Familie. Aber sie hatte erlebt, wie jäh diese Normalität zerstört werden konnte. Sie hatte in Küchen gestanden, die durch Blutspritzer
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