Abendruh: Thriller (German Edition)
hatten ihn wohl bewusst dorthin gesetzt, damit er an seinem ersten Tag jemanden hatte, der sich um ihn kümmerte. Er wirkte verwirrt und ein wenig verängstigt, als ob er gerade auf einem fremden Planeten gelandet wäre. Irgendwie spürte er, dass sie ihn ansah, und drehte den Kopf, um ihren Blick zu erwidern. Und dann hörte er einfach nicht mehr auf, sie anzustarren, als ob Claire die Einzige wäre, die ihn hier interessierte. Als ob er gerade die eine Person in diesem Raum entdeckt hätte, die genauso ein Außenseiter war wie er.
Das hartnäckige Ping-ping eines Löffels, der gegen ein Glas geschlagen wurde, lenkte alle Blicke zum Lehrertisch. Direktor Baums Stuhl schrammte geräuschvoll über den Boden, als er sich erhob.
»Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler«, sagte er. »Wie ihr sicher schon bemerkt habt, können wir heute einen neuen Schüler in unserer Mitte begrüßen. Ab morgen wird er am Unterricht teilnehmen.« Er deutete auf den Pinocchio-Knaben, der angesichts der plötzlichen Aufmerksamkeit errötete. »Ich hoffe, dass ihr ihm alle einen herzlichen Empfang bereitet. Und ich hoffe, dass ihr euch alle daran erinnert, wie es war, als ihr hier neu wart, und deshalb dafür sorgt, dass Teddy hier einen ganz fantastischen ersten Tag verlebt.«
Teddy – ohne Nachnamen. Sie fragte sich, warum Direktor Baum dieses Detail ausgelassen hatte. Sie betrachtete den Jungen noch eingehender, so, wie er sie auch betrachtete, und bemerkte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln formten – doch so zaghaft, dass sie sich nicht ganz sicher war, ob es tatsächlich ein Lächeln war. Sie fragte sich, warum er unter all den Mädchen im Saal ausgerechnet sie ansah. Die drei Prinzessinnen waren viel hübscher, und sie saßen näher bei ihm. Ich bin bloß der Sonderling in der Klasse, das Mädchen, das immer das Falsche sagt. Das Mädchen mit dem Loch im Kopf. Warum schaust du gerade mich an?
Es war ihr unangenehm, und zugleich fand sie es irgendwie spannend.
»Ui, seht mal. Er starrt sie total an.« Briana war unauffällig an Claires Tisch getreten und bückte sich nun, um ihr ins Ohr zu flüstern. »Sieht aus, als ob unsere Gespenstschrecke in Miss Nachtgespenst verknallt ist.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Ein Traumpaar – was wird das für entzückende Gespensterbabys geben!«
Wortlos griff Claire nach ihrem Saftglas und schüttete den Inhalt auf Briana. Der Orangensaft klatschte auf die schicke Jeans und die nagelneuen Ballerinas ihrer Rivalin.
»Habt ihr das gesehen ?«, kreischte Briana. »Habt ihr gesehen, was sie gerade mit mir gemacht hat?«
Claire ignorierte das empörte Gequieke, stand auf und verließ den Speisesaal. Auf dem Weg zur Tür sah sie aus dem Augenwinkel Will Yablonskis pickliges Gesicht. Er grinste sie an und reckte verstohlen den Daumen. Noch so ein komischer Kauz, genau wie sie selbst. Vielleicht war Will deswegen immer so nett zu ihr. Schräge Typen wie sie mussten zusammenhalten hier in diesem Zombie-Internat, wo niemand einen schreien hörte.
Auch der Neue starrte sie nach wie vor an. Teddy ohne Nachnamen. Sie spürte, wie sein Blick ihr auf Schritt und Tritt folgte.
Erst am Nachmittag des nächsten Tages sprach sie zum ersten Mal mit ihm. Donnerstags hatte sie immer Stalldienst, und heute striegelte sie Plum Crazy, eines der vier Pferde von Abendruh. Von allen Pflichten, die den Schülern regelmäßig auferlegt wurden, war es die einzige, die ihr ganz und gar nicht schwerfiel, auch wenn es bedeutete, die Boxen auszumisten und Ballen von Sägespänen durch die Gegend zu schleppen. Pferde beschwerten sich nicht. Sie stellten keine Fragen. Sie beobachteten einen nur mit ihren ruhigen braunen Augen und vertrauten darauf, dass man ihnen nicht wehtat. Genau wie Claire darauf vertraute, dass die Pferde ihr nichts taten, obwohl Plum Crazy eine halbe Tonne Muskelmasse auf vier scharfen Hufen war und sie jederzeit hier in seiner Box zu Brei zerquetschen könnte. Nebenan scharrten und flatterten die Hühner, und Herman, der Hahn, krähte wieder einmal ohrenbetäubend laut, aber Plum Crazy stand die ganze Zeit still und gelassen da und wieherte leise, während Claire ihm mit dem Striegel Flanken und Kruppe massierte. Das raspelnde Geräusch der Gumminoppen war hypnotisch und beruhigend. Sie war ganz in die Arbeit vertieft und merkte zuerst gar nicht, dass jemand hinter ihr stand. Erst als sie sich aufrichtete, sah sie plötzlich Teddys Gesicht über die Tür der Box lugen. Sie erschrak
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