Abendruh: Thriller (German Edition)
herrschte kaum Verkehr, und sie sah nur wenige Scheinwerfer, die ihr folgten. Jane behielt sie im Auge. Kurz hinter der Stadtgrenze von Saugus bog der Wagen mit den grellen Halogenscheinwerfern von der Schnellstraße ab. Fünfundzwanzig Meilen später tat der Fahrer des SUV das Gleiche. Als Jane über die Kittery Bridge nach Maine fuhr, war es kurz vor drei, und sie konnte überhaupt keine Scheinwerfer mehr hinter sich sehen. Dennoch hörte sie nicht auf, in den Rückspiegel zu schauen und die Straße hinter ihnen nach einem Verfolger abzusuchen.
Der Mörder war dort im Haus. Sie hatte seinen Fußabdruck im Erdgeschoss gesehen, sie wusste, dass er das ganze Erdgeschoss durchquert hatte, und doch hatte sie nicht ein Mal auch nur einen flüchtigen Blick auf seinen Schatten erhascht, als sie am oberen Treppenabsatz gelauert hatte. Wie lange hatte sie dort gehockt und darauf gewartet, dass er auf der Treppe auftauchte? Wenn das Adrenalin durch die Adern fließt, wenn man dem eigenen Tod ins Auge sieht, dann können einem sechzig Sekunden wie eine Ewigkeit vorkommen. Sie war sich sicher, dass es fünf Minuten gewesen waren, vielleicht auch mehr. Auf jeden Fall hätte er genügend Zeit gehabt, das Erdgeschoss zu erkunden und seine Suche dann im ersten Stock fortzusetzen. Aber genau das hatte er nicht getan. Was hatte ihn daran gehindert? Hatte er instinktiv geahnt, dass eine Polizistin oben an der Treppe auf ihn wartete? Hatte er begriffen, dass seine Chancen plötzlich wesentlich schlechter standen, dass aus einer simplen Hinrichtung nun ein Kampf gegen einen ebenbürtigen – und wie er zu allem entschlossenen – Gegner geworden war?
Sie sah über die Schulter nach dem Jungen. Teddy hatte sich auf dem Rücksitz zusammengerollt wie ein Embryo, die dünnen Arme und Beine angewinkelt. Er hatte einen tiefen Schlaf, wie die meisten Kinder, und nichts deutete darauf hin, dass die Schrecken des heutigen Abends bis in seine Träume vorgedrungen waren.
Als die Sonne am Horizont erschien und langsam durch eine zurückweichende Wolkenbank brach, saß Jane immer noch am Steuer. Sie drehte das Fenster herunter und roch feuchte Erde, sah Dampf vom sonnengewärmten Asphalt aufsteigen. Sie hielt nur einmal an, um zu tanken, auf die Toilette zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Teddy schlief die ganze Zeit durch.
Trotz des Koffeinschubs musste sie kämpfen, um wach zu bleiben und sich auf das letzte Teilstück ihrer Route zu konzentrieren. Sie war so erschöpft, dass sie vergaß, vorher anzurufen, wie Maura ihr geraten hatte. Als es ihr endlich einfiel und sie ihr Handy aus der Tasche zog, zeigte das Display keinerlei Signal an, und sie hatte keine Möglichkeit, der Schule ihre Ankunft anzukündigen.
Es war aber auch nicht nötig – an dem verschlossenen Tor wartete bereits jemand auf sie. Der hünenhafte Mann in zerschlissener Jeans und Trekkingstiefeln, der die Zufahrt blockierte, bot einen Furcht einflößenden Anblick. An seinem Ledergürtel hing ein riesiges Jagdmesser, dessen tödlich scharfe Klinge in der Morgensonne funkelte. Jane ließ den Wagen unmittelbar vor ihm ausrollen, doch er zuckte nicht zusammen, trat nicht zur Seite, sondern stand nur mit verschränkten Armen da, unerschütterlich und unverrückbar wie ein Berg.
»Nennen Sie Ihr Anliegen, Ma’am«, sagte er.
Verblüfft betrachtete sie den Jagdbogen mit dem Köcher voller Pfeile, den der Mann über die Schulter geschlungen hatte, und sie fragte sich, ob sie irgendwo falsch abgebogen und im Wilden Westen gelandet war. Dann blickte sie zu dem schmiedeeisernen Torbogen auf und las den Namen ABENDRUH .
»Ich bin Detective Jane Rizzoli. Ich werde in der Schule erwartet.«
Er ging mit schweren Schritten zum Beifahrerfenster und beäugte den schlafenden Jungen. »Ist das der junge Mr. Clock?«
»Ja. Ich bringe ihn in die Schule.«
Auf dem Rücksitz schlug Teddy endlich die Augen auf. Als er den wilden Mann erblickte, der zu ihm hereinspähte, schrie er erschrocken auf.
»Keine Angst, mein Sohn.« Seine Stimme war erstaunlich sanft für einen Mann von so grimmigem Äußeren. »Mein Name ist Roman. Ich bin hier der Förster. Ich kümmere mich um den Wald, und ich werde auch auf dich aufpassen.«
»Sie sind also Mr. Roman?«, fragte Jane.
»Einfach Roman, das reicht«, schnaubte er und öffnete das große Tor. »Nach drei Meilen kommen Sie zum See. Das Schloss liegt gleich dahinter. Sie werden schon erwartet.« Er winkte sie durch. »Fahren Sie schön langsam.
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