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Abendruh: Thriller (German Edition)

Abendruh: Thriller (German Edition)

Titel: Abendruh: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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an, und ich las die Frage in seinen Augen. Ich ringe immer noch um eine Antwort auf diese Frage: Warum?
    Wir zogen Ikarus aus dem Volvo. Im Gegensatz zu seiner Familie war er sehr lebendig und wehrte sich nach Kräften. Binnen Sekunden hatten wir ihn an Händen und Füßen gefesselt. Wir stießen ihn auf den Rücksitz meines Wagens und warfen eine Decke über ihn.
    Der unglückliche Lastwagenfahrer, benommen und schwindelig von dem Zusammenstoß, hatte nicht mitbekommen, was wirklich passiert war. Später würde er der Polizei erzählen, dass barmherzige Samariter angehalten hätten, um den Fahrer des Volvo zu retten, und dass sie ihn wohl in ein Krankenhaus gebracht hätten. Aber unser wahres Ziel war ein kleiner Flugplatz in achtundvierzig Meilen Entfernung, wo eine vollgetankte Chartermaschine auf uns wartete.
    Wir hatten erreicht, wofür wir gekommen waren, aber so hätte es nicht enden sollen, mit dem Tod von drei unschuldigen Menschen. Nach jeder anderen erfolgreichen Mission hätten wir mit Whiskey gefeiert und uns gegenseitig auf die Schultern geklopft. Aber an diesem Abend war die Stimmung gedämpft. Alle dachten mit Bangen an die möglichen Konsequenzen.
    Wir ahnten nicht, wie furchtbar sie sein würden.

13
    Der Wind rüttelte an den Fenstern von Dr. Anna Wellivers Büro, und von diesem Aussichtspunkt hoch oben im Erkerturm des Schlosses konnte Jane die schwarzen Wolken sehen, die sich aus den Bergen heranwälzten und sich unerbittlich auf sie zubewegten. Ein Sommergewitter war im Anzug, und das Geräusch des Winds machte Jane unruhig, als sie und Maura zusahen, wie Dr. Welliver Teetassen und Unterteller auf einem Tablett arrangierte. Draußen war die Szenerie bedrohlich, doch hier im Turmzimmer herrschte eine behagliche Atmosphäre, mit dem geblümten Sofa, den Räucherstäbchen und den Kristallen, die im Fenster hingen – ein ruhiger Zufluchtsort, wo ein traumatisiertes Kind sich in den weichen Sessel kuscheln und unbesorgt über seine dunkelsten Ängste sprechen konnte. Das Räucherwerk ließ eher an das Wohnzimmer einer esoterisch angehauchten Erdmutter als an das Sprechzimmer einer Therapeutin denken, aber mit ihrer wilden grauen Mähne, ihren Omakleidern und ihren Gesundheitsschuhen war Anna Welliver ja auch wirklich eine exzentrische Erscheinung.
    »Ich hatte ungefähr achtundvierzig Stunden Zeit, den Jungen zu beobachten«, begann Dr. Welliver. »Und ich muss sagen, ich mache mir Sorgen.« Der Wasserkocher auf dem Beistelltisch begann zu zischen und zu blubbern, und sie stand auf, um das dampfende Wasser in eine Porzellankanne zu gießen.
    »Welche Probleme sehen Sie?«, fragte Jane.
    »Oberflächlich betrachtet hat er sich schon erstaunlich gut eingelebt. Der erste Unterrichtstag hat ihm offenbar Spaß gemacht. Ms. Duplessis sagte, in der Lesekompetenz liege er weit über seiner Altersstufe. Mr. Roman hat ihn dazu überredet, im Bogenschießkurs ein paar Pfeile zu schießen. Und gestern Abend habe ich ihn im Computerraum beim Surfen auf YouTube ertappt.«
    Jane sah zu Maura. »Man kann hier nicht mit dem Handy telefonieren, aber Internetanschluss gibt es schon?«
    »Wir können das digitale Zeitalter nicht aufhalten«, meinte Dr. Welliver und lachte. Sie ließ sich schwerfällig in ihren Sessel sinken, und ihr Kleid bauschte sich wie ein Zelt um ihre üppige Figur. »Selbstverständlich sperren wir unangemessene Websites, und unsere Schüler wissen, dass sie niemals irgendwelche persönlichen Daten preisgeben dürfen. Weder ihren Aufenthaltsort noch ihren Namen. Das ist eine Frage der Sicherheit.«
    »Ganz besonders für diese Kinder«, sagte Maura.
    »Worauf ich hinauswollte«, fuhr Dr. Welliver fort, »ist, dass Teddy sich allem Anschein nach sehr gut in seine neue Umgebung einfügt. Er scheint sogar ein paar neue Freunde gefunden zu haben.«
    »Und wo liegt dann das Problem?«, fragte Jane.
    »Bei meiner gestrigen Sitzung mit ihm habe ich festgestellt, dass er sich an manche Dinge im Zusammenhang mit seiner Herkunftsfamilie nicht erinnern kann – oder will.«
    »Sie wissen doch, dass es seinen Grund hat, warum er sich nicht an die Nacht ihres Todes erinnern kann.«
    »Ich weiß, dass sie an Bord ihrer Segeljacht vor Saint Thomas ermordet wurden. Und dass es eine Explosion gab, bei der Teddy das Bewusstsein verlor. Aber mir lässt die Frage keine Ruhe, ob diese Explosion wirklich die alleinige Erklärung für seine Erinnerungslücken ist. Wenn ich ihn nach seiner Familie frage, versucht er

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