Abendruh: Thriller (German Edition)
jedes Mal auszuweichen. Er lenkt ab. Sagt, er habe Hunger oder müsse zur Toilette. Gelegentlich spricht er von Mitgliedern seiner Familie noch in der Gegenwartsform. Er will sich einfach überhaupt nicht mit diesem Verlust auseinandersetzen.«
»Er war erst zwölf«, sagte Maura. »Noch in einem sehr zarten Alter.«
»Es ist zwei Jahre her. Da hätte er eigentlich genügend Zeit gehabt, seinen Verlust zu verarbeiten, wie die anderen Schüler es getan haben. Es gibt noch viel Arbeit mit Teddy. Er muss die Phase der Verleugnung überwinden. Er muss akzeptieren, dass seine Familie nicht mehr da ist.« Sie sah Jane an. »Es ist gut, dass Sie ihn hierher gebracht haben, Detective. Ich hoffe, er darf bei uns bleiben.«
»Das war eine Notmaßnahme«, sagte Jane. »Wo er endgültig untergebracht wird, ist nicht meine Entscheidung.«
»Gestern Abend hat der Verwaltungsrat von Abendruh einstimmig beschlossen, Teddy aufzunehmen und ihm ein umfassendes Stipendium zu gewähren. Bitte teilen Sie das den Behörden in Massachusetts mit. Wir wollen gerne behilflich sein.«
»Ich sage Ihnen, wie Sie uns wirklich helfen können«, erwiderte Jane. »Erzählen Sie mir von den beiden anderen Schülern, Claire Ward und Will Yablonski.«
Dr. Welliver stand auf, um den Kräutertee einzuschenken, der bis jetzt gezogen hatte. Schweigend füllte sie die Tassen und reichte sie ihren Besuchern, ehe sie wieder Platz nahm und mehrere gehäufte Teelöffel Zucker in ihren eigenen Tee rührte. »Das ist eine heikle Angelegenheit«, sagte sie schließlich. »Es geht immerhin um vertrauliche Informationen aus den Akten unserer Schüler.«
»Mein Problem ist auch ziemlich heikel«, entgegnete Jane. »Ich versuche, Teddy am Leben zu halten.«
»Wieso glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen diesen drei Kindern gibt?«
Maura antwortete: »Es ist ein allzu merkwürdiger Zufall. Deshalb habe ich Jane angerufen, weil es so viele Parallelen gibt. Drei verschiedene Familien – die Wards, die Yablonskis und die Clocks, und alle wurden im gleichen Jahr ermordet. Sogar in der gleichen Woche . Jetzt, zwei Jahre später, werden wieder Anschläge auf die überlebenden Kinder verübt. Und zwar binnen weniger Wochen.«
»Ja, ich gebe zu, das ist seltsam.«
»Es ist viel mehr als nur seltsam«, sagte Jane.
»Aber es ist ein reiner Zufall.«
Jane beugte sich vor und sah Dr. Welliver direkt in die Augen. »Wie können Sie die Möglichkeit, dass es da eine Verbindung gibt, so leichthin abtun?«
»Weil diese Familien an ganz verschiedenen Orten ermordet wurden. Teddy Clocks Familie starb auf ihrem Boot vor Saint Thomas. Claires Eltern wurden in London erschossen.«
»Und Wills Eltern? Die Yablonskis?«
»Sie kamen beim Absturz ihres Privatflugzeugs in Maryland ums Leben.«
Jane runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie seien ermordet worden. So, wie Sie es formulieren, klingt es eher nach einem Unfall.«
Dr. Welliver wandte sich ab und blickte durch die Glastür auf den Zinnengang hinaus, wo Nebelschwaden im Wind wirbelten. »Ich habe Ihnen wahrscheinlich schon viel zu viel erzählt. Es geht hier um meine Patienten, und die vertrauen darauf, dass ich ihre Geheimnisse für mich behalte. Ich fühle mich an die Schweigepflicht gebunden.«
»Wissen Sie was«, sagte Jane, »ich könnte auch einfach zum Telefon greifen und direkt mit den Kollegen von den Strafverfolgungsbehörden reden. Ich könnte mir all diese Informationen selbst besorgen. Warum machen Sie es mir nicht ein bisschen leichter und erzählen es mir einfach? War dieser Flugzeugabsturz ein Unfall?«
Dr. Welliver schwieg eine Weile, während sie sich ihre Antwort zurechtlegte. »Nein, es war kein Unfall«, sagte sie schließlich. »Die Verkehrssicherheitsbehörde ist damals zu dem Schluss gekommen, dass die Maschine manipuliert wurde. Aber auch da gibt es wieder keine offensichtliche Verbindung zu den beiden anderen Familien. Abgesehen von der Todesart.«
»Nichts für ungut«, sagte Jane, »aber das Ziehen von Schlüssen ist mein Job, nicht Ihrer. Höchstwahrscheinlich ist es ein Zufall, aber ich muss so vorgehen, als ob ein Vorsatz dahintersteht. Denn wenn wir irgendetwas übersehen, könnten wir am Ende drei tote Kinder zu beklagen haben.«
Welliver stellte ihre Teetasse ab und betrachtete Jane eine Zeit lang, als ob sie versuchte, die Entschlossenheit ihres Gegenübers einzuschätzen. Endlich erhob sie sich von ihrem Sessel und schlurfte zum Aktenschrank, wo sie eine Weile nach einer
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