Abendruh: Thriller (German Edition)
Patientenakte suchte. »Die Maschine der Yablonskis stürzte kurz nach dem Start ab«, sagte sie. »Neil Yablonski war der Pilot. Außer ihm und seiner Frau war niemand an Bord. Anfangs ging man von einem Unfall aus.« Sie kam mit Wills Akte zum Schreibtisch zurück und reichte sie Jane. »Dann fanden die Unfallermittler Spuren von Sprengstoff. Sie suchten nach einem Motiv, nach irgendeinem besonderen Grund, warum ausgerechnet dieses Paar zum Opfer eines Anschlags wurde. Doch sie fanden nie eine Antwort. Zum Glück war Will, der Sohn der beiden, an diesem Tag nicht mit seinen Eltern an Bord der Maschine. Er hatte sich entschieden, das Wochenende bei seiner Tante und seinem Onkel zu verbringen, um in Ruhe an einem Physikreferat zu arbeiten.«
Jane schlug die Mappe auf und überflog das Aufnahmeformular der Abendruh-Schule.
Vierzehnjähriger Weißer, soweit bekannt keine lebenden Verwandten. Nach Abendruh vermittelt vom Staat New Hampshire, nachdem das Haus seiner Tante und seines Onkels, Lynn und Brian Temple, die seit dem Tod seiner Eltern zwei Jahre zuvor das Sorgerecht für ihn hatten, unter verdächtigen Umständen niedergebrannt war …
Jane las den nächsten Absatz und sah zu Dr. Welliver auf, die gerade noch einen vierten Löffel Zucker in ihren Kräutertee gab. »Der Junge galt bei dem Brand in New Hampshire vorübergehend als verdächtig?«
»Die Polizei musste diese Möglichkeit einbeziehen, weil Will der einzige Überlebende war. Er sagte aus, er sei draußen gewesen und habe durch sein Teleskop geschaut, als das Haus in die Luft flog. Eine Autofahrerin, die zufällig vorbeikam, sah die Flammen und hielt an, um Hilfe zu leisten. Sie war es, die den Jungen in die Notaufnahme brachte.«
»Der Junge war rein zufällig draußen und schaute durch sein Teleskop?«
»Wills Vater und sein Onkel waren beide Wissenschaftler bei der NASA und haben am Goddard Space Flight Center in Maryland gearbeitet. Da ist es kaum überraschend, dass Will ein kleiner Amateurastronom ist.«
»Der Junge ist also ein Technikfreak«, sagte Jane.
»Könnte man so sagen. Deshalb hat die Polizei ihn auch kurzzeitig verdächtigt, weil er sicher intelligent genug ist, um eine Bombe zu bauen. Aber er hatte kein Motiv.«
»Kein bekanntes jedenfalls.«
»Nach meinen Beobachtungen ist Will ein sehr wohlerzogener Junge mit hervorragenden schulischen Leistungen, vor allem in Mathematik. Ich kann keinerlei Hinweise auf gesteigerte Aggressivität erkennen. In seinem Sozialverhalten ist er ein wenig gehemmt. Seine Tante und sein Onkel hatten ihn in New Hampshire zu Hause unterrichtet, weshalb er wenig Umgang mit anderen Kindern hatte. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum er nicht so schnell Freundschaften schließt.«
»Warum wurde er zu Hause unterrichtet?«
»In Maryland hatte er zuvor Probleme in der Schule. Der arme Junge wurde gehänselt und gemobbt.«
»Warum?«
»Wegen seines Übergewichts.« Dr. Welliver sah auf ihre eigene Leibesfülle hinunter, die durch die weiten Kleider, die sie stets trug, nur teilweise kaschiert wurde. »Ich habe zeit meines Lebens mit meinem Gewicht zu kämpfen gehabt, ich weiß also, was es heißt, wenn die Leute sich über einen lustig machen. Kinder können besonders grausam sein, und sie haben sich auf Will eingeschossen, weil er dick und ein wenig unbeholfen ist. Hier schreiten wir sofort ein, wenn wir sehen, dass jemand schikaniert wird, allerdings haben wir unsere Augen nicht überall. Will ist trotz aller Hänseleien immer freundlich und gutmütig. Er ist ein zuverlässiger Schüler, der nie Schwierigkeiten macht.« Welliver hielt einen Moment inne. »Im Gegensatz zu dem Mädchen.«
»Claire Ward«, sagte Jane.
Welliver seufzte. »Unsere kleine Nachtschwärmerin.« Sie hievte sich aus ihrem Sessel und ging noch einmal zum Schrank, um nach Claires Akte zu suchen. »Also, dieses Kind hat uns schon sehr viel Kopfzerbrechen bereitet. Meist wegen ihrer neurologischen Probleme.«
»Was meinen Sie mit neurologischen Problemen?«
Welliver richtete sich auf und sah sie an. »Claire war an dem Abend, als ihre Eltern in London überfallen wurden, dabei. Der Täter schoss allen in den Kopf. Nur Claire überlebte.«
In der Ferne grollte Donner, und der Himmel hatte sich bedrohlich verdunkelt. Jane sah auf ihren Arm hinunter und merkte, dass die Härchen sich aufgestellt hatten, als ob gerade ein kühler Luftzug über ihre Haut geweht wäre.
Welliver legte Claires Akte vor Jane auf den Tisch. »Es
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