Abendruh: Thriller (German Edition)
herumzustreifen als in irgendeiner Großstadt.«
Gegen dieses Argument konnte Jane nichts einwenden; sie wusste nur zu gut, wo die gefährlichsten Beutejäger zu finden waren. »Und wenn sie von Abendruh abgeht? Was wird dann aus ihr?«
»Wenn es so weit ist, muss sie ihre eigenen Entscheidungen treffen. Bis dahin vermitteln wir ihr die Fertigkeiten, die sie zum Überleben braucht. Das ist unser Ziel hier, Detective. Es ist der Grund, warum es diese Schule gibt: damit diese Kinder ihren Platz in der Welt finden können. In einer Welt, die alles andere als gut zu ihnen war.« Welliver deutete auf den Aktenschrank. »Wir haben Dutzende von Schülerinnen und Schülern wie Claire, und manche waren bei ihrer Ankunft hier so traumatisiert, dass sie kaum ein Wort sprachen. Andere sind jede Nacht schreiend aufgewacht. Aber Kinder halten viel aus. Mit der richtigen Anleitung können sie schnell wieder auf die Beine kommen.«
Jane schlug Claires Akte auf. Wie die von Will enthielt sie eine psychologische Erstbeurteilung von Dr. Welliver. Jane blätterte weiter zu einer Zusammenfassung der Ermittlungen des Ithaca Police Department. »Wie kam es, dass Claire gerade diesem Paar zugewiesen wurde – den Buckleys?«
»Bob und Barbara Buckley waren Freunde von Claires Eltern, die sie in ihrem Testament als Vormunde bestimmt hatten. Die Buckleys hatten selbst keine Kinder. Als sie Claire zu sich nahmen, war das sicher eine ziemliche Belastung.«
Jane starrte auf den Polizeibericht über den Tod der Buckleys und sah zu Maura auf. »Jemand hat ihren Wagen gerammt. Und beiden in den Kopf geschossen.«
»Es sah in der Tat nach einem gezielten Mordanschlag aus«, sagte Dr. Welliver. »Aber die Buckleys hatten, soweit bekannt, keine Feinde. Das legt die Vermutung nahe, dass der Täter es auf Claire abgesehen haben könnte, weil sie ebenfalls im Wagen saß.«
»Und warum ist das Mädchen dann noch am Leben?«, fragte Jane.
Dr. Welliver zuckte mit den Achseln. »Göttliche Intervention.«
»Wie bitte?«
»Fragen Sie Claire, und sie wird Ihnen erzählen, dass genau das passiert ist. Sie war im Wagen eingeschlossen. Sie hörte die Schüsse, und sie sah den Mörder direkt vor sich stehen. Und dann tauchte noch jemand auf. Ein Engel , so hat Claire sie beschrieben. Eine Frau, die ihr aus dem Wrack half und bei ihr blieb.«
»Hat die Polizei diese Frau vernommen? Hat sie den Mörder gesehen?«
»Leider ist die Frau genau in dem Moment verschwunden, als die Polizei eintraf. Niemand außer Claire hat sie je zu Gesicht bekommen.«
»Vielleicht hat sie ja nie existiert«, mutmaßte Maura. »Vielleicht hat Claire sie sich nur eingebildet.«
Dr. Welliver nickte. »Die Polizei hatte auch ihre Zweifel, was diese mysteriöse Frau betraf. Aber sie hatte jedenfalls keinen Zweifel daran, dass es sich um eine regelrechte Hinrichtung handelte. Und das ist der Grund, weshalb Claire nach Abendruh kam.«
Jane klappte die Akte zu und sah die Psychologin an. »Das wirft eine andere Frage auf: Wie ist das genau vor sich gegangen?«
»Sie wurde zu uns überwiesen.«
»Ich bin mir sicher, dass der Staat New York sich selbst um seine Kinder kümmern kann. Warum sollte sie nach Abendruh geschickt werden? Und wie hat es Will Yablonski aus New Hampshire hierher verschlagen?«
Dr. Welliver sah Jane nicht an, stattdessen fixierte sie einen der Kristalle, die im Fenster hingen. An einem sonnigen Tag würde dieses Stück Quarz Regenbogen ins Zimmer zaubern, aber an diesem grauen Morgen hing es matt und trübe da, vollführte keine Wunder der Lichtbrechung. »Abendruh hat einen guten Ruf«, sagte sie. »Wir bieten vielen dieser Kinder eine Schulbildung sowie Unterkunft und Verpflegung, ohne dass dem Staat irgendwelche Kosten entstehen. Die Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land wissen von der Arbeit, die wir hier leisten.«
»Weil der Mephisto-Club überall ist«, sagte Jane. »Und weil Sie überall Ihre Spione haben.«
Welliver sah Jane unverwandt an. »Sie und ich stehen auf derselben Seite, Detective«, sagte sie ruhig. »Zweifeln Sie bitte nie daran.«
»Es sind die Verschwörungstheorien, mit denen ich meine Probleme habe.«
»Können wir uns wenigstens darauf verständigen, dass die Unschuldigen Schutz brauchen? Dass Opfer von Verbrechen einen Anspruch auf Therapie haben? In Abendruh leisten wir beides. Ja, wir verfolgen Verbrechen auf der ganzen Welt. Wie alle Wissenschaftler suchen wir nach Mustern. Weil wir auch Opfer sind und beschlossen
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