Abendruh: Thriller (German Edition)
passierte, als die Familie nach einem Restaurantbesuch zu ihrem Wagen ging. Claires Vater war Erskine Ward, ein Beamter im Auswärtigen Dienst, der in London, Rom und Washington gearbeitet hatte. Ihre Mutter Isabel war Hausfrau. Wegen Erskines Tätigkeit in der US -Botschaft befürchtete man zunächst, es könnte ein Terroranschlag gewesen sein, doch am Ende kam die Polizei zu dem Schluss, dass es sich um einen missglückten Raubüberfall gehandelt hatte. Claire konnte den Ermittlern nicht helfen, weil sie sich nicht an den Überfall erinnerte. Ihre Erinnerung setzt erst wieder ein, als sie im Krankenhaus nach der Operation aufwachte.«
»Für ein Mädchen, das einen Kopfschuss erlitten hat, wirkt sie heute aber erstaunlich normal«, bemerkte Jane.
»Auf den ersten Blick scheint sie tatsächlich völlig normal zu sein.« Welliver sah Maura an. »Auch Sie haben ihre Defizite nicht gleich bemerkt, nicht wahr, Dr. Isles?«
»Nein«, gab Maura zu. »Sie sind sehr subtil.«
»Als die Kugel in ihren Kopf gefeuert wurde«, erklärte Welliver, »löste sie eine sogenannte Diaschisis aus. Das ist Griechisch und bedeutet ›vollkommen geschockt‹. Im Alter von elf Jahren war ihr Gehirn noch relativ formbar, sodass es fast alle seine Funktionen wiedererlangen konnte. Ihre sprachlichen und motorischen Fertigkeiten sind so gut wie normal, ebenso wie ihr Gedächtnis. Bis auf diesen Abend in London. Vor dem Überfall war sie eine glänzende Schülerin, sogar hochbegabt. Aber jetzt fürchte ich, dass sie nie herausragende akademische Leistungen erbringen wird.«
»Aber sie kann trotzdem ein normales Leben führen?«, fragte Jane.
»Nicht ganz. Wie viele Patienten mit Kopfverletzungen ist sie sehr impulsiv. Sie geht Risiken ein, sagt Dinge, ohne sich viele Gedanken um die Konsequenzen zu machen.«
»Klingt wie ein ganz normaler Teenager.«
Dr. Welliver lachte vielsagend. »Stimmt. Teenager-Gehirn ist für sich gesehen schon eine Diagnose. Aber ich glaube nicht, dass Claire diese Dinge jemals ablegen wird. Impulskontrolle wird für sie immer ein Thema sein. Sie verliert die Beherrschung, platzt einfach heraus mit dem, was sie gerade denkt. Das hat ihr schon Probleme eingebracht. Sie liegt im Clinch mit einem anderen Mädchen hier an der Schule. Es fing an mit gegenseitigen Beschimpfungen, gemeinen Briefchen. Dann ging es weiter mit Beinstellen und Schubsen. Kleider wurden mutwillig zerstört, Regenwürmer in Betten geschmuggelt.«
»Hört sich nach mir und meinen Brüdern an«, meinte Jane.
»Mit dem Unterschied, dass Sie dieses Verhalten hoffentlich irgendwann abgelegt haben. Aber Claire wird immer zu unüberlegten Handlungen neigen. Und angesichts ihres anderen neurologischen Problems ist das besonders gefährlich.«
»Und welches Problem ist das?«
»Ihr Schlaf-wach-Rhythmus ist vollkommen gestört. Das passiert bei vielen Patienten mit Kopfverletzungen, aber die meisten leiden unter extremer Schläfrigkeit. Sie schlafen mehr als normal, während die Folgen bei Claire aus irgendeinem Grund genau umgekehrt sind. Sie findet keine Ruhe, besonders nachts, da sie unter extremer Geräuschempfindlichkeit zu leiden scheint. Sie kommt offenbar mit nur vier Stunden Schlaf aus.«
»Als ich hier ankam«, sagte Maura, »habe ich sie unten im Garten gesehen. Es war weit nach Mitternacht.«
Welliver nickte. »Um diese Zeit ist sie meistens unterwegs. Sie ist wie ein nachtaktives Tier. Wir nennen sie unsere Nachtwandlerin.«
»Und Sie lassen sie einfach so im Dunkeln herumspazieren?«, fragte Jane.
»Als sie noch in Ithaca gewohnt hat, waren ihre Pflegeeltern auch machtlos dagegen. Sie haben es mit Medikamenten versucht, haben die Türen abgeschlossen, ihr mit Strafen gedroht. Aber das wird für den Rest ihres Lebens das Grundmuster von Claires Verhalten sein, und sie muss lernen, damit umzugehen. Sie ist hier keine Gefangene, also haben wir entschieden, sie nicht wie eine zu behandeln.«
»Indem Sie sie nachts frei herumlaufen lassen?«
»In den Wäldern von Maine lauern zum Glück nicht viele Gefahren. Wir haben keine Giftschlangen, keine großen Raubtiere, und unsere Schwarzbären haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Die größte Gefahr ist, dass sie auf ein Stachelschwein treten oder sich den Knöchel verstauchen könnte, wenn sie über einen Tierbau stolpert. Das ist nun einmal Claires Wesen, und es ist ein Zustand, mit dem sie leben muss. Und seien wir ehrlich, es ist weit weniger gefährlich, hier im Wald
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