Abendruh: Thriller (German Edition)
Nachbarn.« Alles hoffnungslose Fälle .
»Du siehst also, es gibt da so einiges zu bedenken. Es war so viel einfacher, als ich die betrogene Ehefrau war und alle gesagt haben: Pack’s an, Mädel! Jetzt ist plötzlich alles anders, und ich bin diejenige, die die Familie spaltet. Weißt du überhaupt, wie schwer das für mich ist? Als Ehebrecherin gebrandmarkt zu werden?«
Besser gebrandmarkt als deprimiert und innerlich abgestumpft, dachte Jane. Sie beugte sich über den Tisch und legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm. »Du hast es verdient, glücklich zu sein, mehr kann ich dazu nicht sagen. Lass dich nicht von Father Flanagan oder Mrs. Kaminsky oder Frankie zu etwas überreden, was du gar nicht willst.«
»Ich wollte, ich könnte so sein wie du. Du bist dir deiner Sache so sicher. Ich schaue dich an und denke mir, wie habe ich es nur geschafft, eine so starke Tochter großzuziehen? Eine, die das Frühstück macht, ihr Baby füttert und dann auf Verbrecherjagd geht?«
»Ich bin stark, weil du mich stark gemacht hast, Ma.«
Angela lachte. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ja, du hast schon recht. Schau mich nur an, ich rede schon ganz wirres Zeug. Weil ich zwischen meinem Liebhaber und meiner Familie hin- und hergerissen bin.«
»Und hier sitzt ein Familienmitglied, das dir sagt: Hör auf, dir Gedanken über uns zu machen.«
»Unmöglich. Es heißt, die Familie ist dein eigen Fleisch und Blut, und das ist ganz wörtlich zu verstehen. Wenn ich Frankie wegen dieser Geschichte verliere, dann ist es so, als ob ich mir den eigenen Arm abschneiden würde. Wenn du deine Familie verlierst, dann verlierst du alles.«
Diese Worte hallten in Janes Kopf nach, als sie am Abend nach Hause fuhr. Ihre Mutter hatte recht: Wenn man seine Familie verlor, dann verlor man alles. Sie hatte gesehen, was mit Menschen passierte, denen ihr Partner oder ihr Kind durch einen Mord entrissen wurde. Sie hatte gesehen, wie der Schmerz ihnen die Lebenskraft raubte, wie ihre Gesichter über Nacht alterten. Sosehr sie sich auch bemühte, diesen Menschen Trost zu spenden, wenn sie ihnen versprach, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde – sie konnte doch nicht erahnen, wie tief dieser Schmerz saß, und sie wollte es auch nicht wissen. Nur jemand, der selbst zum Opfer geworden war, konnte es je wirklich verstehen.
Und deshalb gab es eine Schule wie Abendruh. Es war ein Ort, wo solche Wunden geheilt werden konnten, im Kreis von Menschen, die einen verstanden.
Sie hatte am Morgen mit Maura gesprochen, doch von Zapatas Schicksal hatte sie ihr noch nicht erzählt. Jetzt, da der Hauptverdächtige tot war und Teddy vermutlich nicht mehr in Gefahr schwebte, mussten sie entscheiden, ob es nicht an der Zeit war, ihn nach Boston zurückzuholen. Sie bog auf den Parkplatz vor ihrem Haus ein und wollte gerade Maura auf dem Handy anrufen, als ihr einfiel, dass sie ja in Abendruh keinen Empfang hatte. Sie ging ihre Anrufliste durch, fand die Festnetznummer, von der Maura zuletzt angerufen hatte, und wählte sie.
Nach dem sechsten Läuten meldete sich eine zittrige Stimme: »Abendruh.«
»Dr. Welliver, sind Sie das? Hier ist Detective Rizzoli.« Sie wartete auf eine Antwort. »Hallo, sind Sie noch da?«
»Ja. Ja.« Ein verblüfftes Lachen. »O Gott, die sind ja so wunderschön!«
»Was ist wunderschön?«
»Ich habe noch nie solche Vögel gesehen. Und der Himmel – so seltsame Farben …«
»Ähm, Dr. Welliver? Könnte ich bitte Dr. Isles sprechen?«
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Würden Sie ihr sagen, dass sie mich zurückrufen soll? Sie sehen sie doch sicher beim Abendessen, oder?«
»Ich gehe nicht hin. Heute schmeckt alles irgendwie komisch. Oh! Oh!« Welliver quietschte verzückt. »Wenn Sie nur diese Vögel sehen könnten! Sie sind so nah, dass ich sie fast berühren könnte!«
Jane hörte, wie sie das Telefon hinlegte. Dann Schritte, die sich entfernten.
»Dr. Welliver? Hallo?«
Keine Antwort.
Jane runzelte die Stirn und legte auf. Sie fragte sich, was das wohl für Vögel waren, die diese Frau dermaßen bezaubert hatten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie schon bizarre Flugsaurier über den Wäldern von Maine schweben.
In der ganz besonderen Welt von Abendruh schien alles möglich.
21
Hühnermörderin.
Obwohl niemand es ihr ins Gesicht sagte, wusste Claire genau, was sie flüsterten, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und ihr von den anderen Tischen im Speisesaal verächtliche Blicke zuwarfen. Sie ist es
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