Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendruh: Thriller (German Edition)

Abendruh: Thriller (German Edition)

Titel: Abendruh: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
Rechtsmediziner des Staates Maine war Dr. Daljeet Singh, den Maura einige Jahre zuvor bei einer rechtsmedizinischen Fachtagung kennengelernt hatte. Seither hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, bei jeder Tagung zusammen essen zu gehen und dabei über außergewöhnliche Fälle zu diskutieren oder einander Urlaubs- und Familienfotos zu zeigen. Aber es war nicht Daljeet, der aus dem weißen Geländewagen mit dem Wappen des Rechtsmedizinischen Instituts stieg, sondern eine junge Frau, die mit ihren Trekkingstiefeln, der Cargohose und der Fleecejacke aussah, als käme sie geradewegs vom Wandern. Sie ging an den Fahrzeugen der Maine State Police vorbei, mit dem sicheren Schritt einer Frau, die nicht zum ersten Mal zu einem Leichenfundort gerufen wird, und steuerte direkt auf Maura zu.
    »Ich bin Dr. Emma Owen. Und Sie sind Dr. Isles, nicht wahr?«
    »Gut geraten«, entgegnete Maura, während sie sich automatisch die Hand gaben. Es kam ihr komisch vor, eine andere Frau so zu begrüßen; zumal eine, die kaum alt genug schien, um das College abgeschlossen zu haben, geschweige denn eine Facharztausbildung in Rechtsmedizin.
    »Geraten wäre übertrieben. Ich habe Ihr Foto in dem Artikel gesehen, den Sie letztes Jahr im Journal of Forensic Pathology veröffentlicht haben. Daljeet spricht ständig von Ihnen, deshalb kommt es mir vor, als ob ich Sie schon lange kenne.«
    »Wie geht es Daljeet?«
    »Er macht diese Woche Urlaub in Alaska. Sonst wäre er selbst hier.«
    »Und das hier sollte mein Urlaub sein«, erwiderte Maura mit ironischem Lachen.
    »Das ist ja wirklich dumm gelaufen. Wo Sie extra nach Maine gekommen sind, um mal keine Leichen zu sehen.« Dr. Owen zog Schuhüberzieher aus der Tasche und streifte sie auf einem Bein balancierend über ihre Stiefel. Wie so viele der jungen Medizinerinnen, die neuerdings das Gesicht des Berufs prägten, wirkte Dr. Owen intelligent, sportlich und selbstbewusst. »Detective Holland hat mir schon am Telefon erklärt, worum es geht. Hat sich das irgendwie abgezeichnet? Haben Sie Anzeichen von Suizidneigung oder Depressionen bemerkt?«
    »Nein. Ich bin genauso geschockt wie alle anderen hier. Dr. Welliver wirkte auf mich völlig gesund. Das Einzige, was heute anders war, ist, dass sie nicht zum Essen heruntergekommen ist.«
    »Und wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
    »Gegen Mittag. Ich glaube, sie hatte um eins einen Termin mit einem Schüler. Danach wurde sie nicht mehr gesehen. Bis sie sprang.«
    »Haben Sie irgendwelche Theorien? Irgendeine Ahnung, warum sie das getan hat?«
    »Nein, überhaupt keine. Wir sind alle völlig perplex.«
    »Tja«, meinte die junge Frau, »wenn eine Expertin wie Dr. Isles im Dunkeln tappt, dann stehen wir wirklich vor einem Rätsel.« Sie zog Latexhandschuhe an. »Detective Holland sagte mir, es gebe eine Zeugin.«
    »Eine der Schülerinnen hat gesehen, wie sie sprang.«
    »O Gott. Das arme Mädchen wird Albträume bekommen.«
    Als ob Claire Ward nicht schon genug davon hätte, dachte Maura.
    Dr. Owen blickte zum Schulgebäude auf, dessen erleuchtete Fenster sich vor dem Nachthimmel abhoben. »Wow. Ich war noch nie hier draußen. Ich wusste gar nicht, dass es hier eine Schule gibt. Sieht aus wie ein Schloss.«
    »Erbaut im 19. Jahrhundert als Landsitz eines Eisenbahnbarons. Nach der gotischen Architektur zu urteilen, hatte er offenbar Adelsallüren.«
    »Wissen Sie, von wo sie gesprungen ist?«
    »Vom Zinnengang. Er geht von dem Erkerturm ab, in dem Dr. Welliver ihr Büro hatte.«
    Dr. Owen starrte zu dem Turm hinauf, zum Fenster von Wellivers Büro, wo immer noch Licht brannte. »Das sind gut zwanzig Meter, vielleicht sogar mehr. Was meinen Sie, Dr. Isles?«
    »Würde ich auch schätzen.«
    Während sie den Fußweg entlang zur Seitenfront des Gebäudes gingen, fragte Maura sich, seit wann sie eine führende Autorität in ihrem Fach war – ein Status, den die junge Frau ihr offensichtlich zuerkannte, wenn sie Maura ständig mit »Dr. Isles« anredete. Sie gingen auf die Stelle zu, wo die Taschenlampen zweier Detectives der Maine State Police die Dunkelheit durchschnitten. Die Leiche, vor der sie standen, war mit einem Plastiklaken zugedeckt.
    »Guten Abend, die Herren«, sagte Dr. Owen.
    »Sind es nicht immer die Seelenklempner, die so was machen?«, meinte einer der Detectives.
    »Sie war Psychologin?«
    »Ja, Dr. Welliver war die Schulpsychologin«, erklärte Maura.
    Der Detective schnaubte. »Wie ich schon sagte, es gab wohl einen Grund,

Weitere Kostenlose Bücher